Ein Portrait von Beatrice Simonsen, Oktober 2003
Sollte man etwa Bildungsministerin Elisabeth Gehrer die Lektüre von Xaver Bayer empfehlen? Vielleicht wäre sie überrascht über die provokante Nachdenklichkeit eines typischen Vertreters der Generation 'Partybesucher und Zeugungsverweigerer'. Der Sinn des Lebens ist nämlich das große Thema des 1977 in Wien geborenen Autors. Auf seiner Suche nach einer Antwort durchstöbert er nicht nur die Partyszene sondern gleich die halbe Kulturgeschichte. Dort findet er Herausforderung und Bestätigung für seine Gedanken. Deshalb liebt Xaver Bayer das Zitat.
Ende Juni 2003 fand in der Reihe Check out Cechov in der Schneiderei des Wiener Schauspielhauses eine szenische Lesung von Xaver Bayer statt: "Als ich heute aufwachte, aufstand und mich wusch, da schien mir plötzlich, mir sei alles klar auf dieser Welt und ich wüßte, wie man leben soll". Zitate aus Tschechows berühmten "Drei Schwestern" ergeben, eingefügt in eine Bayer'sche Gedankenübung über die "merkwürdige Leere" im Leben, den Eindruck, dass sich die Unsicherheit darüber "wie man leben soll" von Jahrhundertwende zu Jahrhundertwende nicht gewandelt hat.
Philosophen, Literaten und Musiker von Goethe bis Falco bat Xaver Bayer 2001 in seinem ersten Roman "Heute könnte ein glücklicher Tag sein" zu Wort. Die jedem Kapitel vorangestellten Zitate verwendete er quasi als Stimmungsmacher für den Ich-Erzähler. Jung wie der Autor selbst, scheint er "alles" zu haben. Was fehlt also? Alles. "Die Gesamtheit bedrückte ihn; des Alls wegen, das er nicht hatte, tat er nichts." (Zitat Ludwig Hohl).
Heute könnte ein glücklicher Tag sein. Ist es aber nicht. Nichts passiert, nichts ändert sich, nur die Jahreszeiten. Trinken, Rauchen, Nicht-zur-Uni-gehen, Parties, Drogen, Mädchen, Freunde: "... ich gehe die Treppen hinunter, ich rauche und langweile mich, ich rufe an und niemand hebt ab, ich weiß nicht was ich tun soll." Winzige Ausbruchsversuche verkümmern. Begegnungen bleiben bruchstückhaft. Geld kommt aus dem Bankomat. Zurück bleibt nichts.
Bayer erzählt schlicht und sensationslos, analytisch und entblößend. Es gehört Mut dazu, einen derartigen Anti-Helden zu erfinden, in einer Gesellschaft, die das ewige Hoch des persönlichen Stimmungsbarometers zum Parameter des persönlichen Erfolges macht. Dem widersetzt sich der jugendliche Autor. Er hat sich für sein Debut den Kitsch, die Glückserwartungen und die Ziellosigkeit eines jungen Menschen erwählt.
Wurde dieser Erstling von der Kritik noch mit ungeteilter Sympathie aufgenommen - etwa Petra Nachbaur im Standard, 9.3.2002: "Man hätt' den Erzähler trotz seines bewölkten Gemüts gern in der Bekanntschaft..." - , so scheiden sich die Geister bereits an seinem zweiten Buch. Stephan Hilpold spricht von einem missglückten Roman, "über dessen Thema sich der Autor offenbar nicht im Klaren war" (Standard, 17.5.2003), Leo Federmair dagegen meint: "Obwohl in diesem Buch nichts Besonderes passiert, habe ich es wie einen spannenden Roman gelesen." (Literatur und Kritik, Juli 2003).
Auch "Die Alaskastraße" (erschienen 2003) ist ein Roman mit existentiellem Anspruch. Die Anregung dafür stammt diesmal von Walker Percy, dessen Roman "The Moviegoer"vom Übersetzer Peter Handke ranggleich mit Albert Camus "Der Fremde" eingestuft wurde. "Das große Geheimnis aller Zeiten ist", zitiert Bayer zu Beginn seines Romans den amerikanischen Autor Percy, "dass der Mensch sich nur zu einem Zweck, zu einem einzigen Zweck entwickelt hat, geboren wird, lebt und stirbt: Um einen anderen Menschen sexuell zu attackieren oder sich dieser Attacke zu unterwerfen." Zitat, Stimmungsmacher und Thema. Die Ausgangsposition für die Frage nach dem Sinn der Sexualität schafft Neo-Macho Rolf, der meinungsmäßig die Stimmung aufheizt. Seiner Ansicht, dass Frauen bloß geile Luder seien, mag sich der Ich-Erzähler zwar nicht anschließen, er hat ihm aber dennoch nicht mehr zu entgegnen als "Geh doch ficken". Die Stimmung hängt schief, als er mit seiner Freundin auf Urlaub fährt. Während sie sich recht gut erholt, schlägt er sich mit Alkohol, Unlust und unterdrückten Aggressionen herum. Eine sexuelle Attacke findet nicht statt, der Erzähler flieht die Situation. Er will weder die Frau, noch sich selbst dem Trieb der Sexualität, den er negativ empfindet, unterwerfen. Die erzielte Leidenschaftslosigkeit ist nichtsdestoweniger unbefriedigend. Einzig in einer gegen sich selbst gerichteten Attacke - die die unangenehme Assoziation mit einer Selbstgeißelung hervorruft - erlangt der Erzähler das Gefühl, etwas oder sich selbst überwunden zu haben.
"Die Alaskastraße" läßt sich als Fortsetzungsroman von "Heute könnte ein glücklicher Tag sein" lesen. Ein Ich-Erzähler auf Ego-Trip, sich und seine Umwelt analysierend. Da wie dort ist die Gefühlswahrnehmung seltsam blockiert. Drogen und Alkohol führen zu einer gewollten Eindämmung der Empfindsamkeit. Ebenfalls ident ist seine Neigung, in einer Art Bestandsaufnahme der ihn umgebenden Wirklichkeit, Halt zu suchen. Der Ich-Erzähler befindet sich jeweils auf unsicherem Terrain, was sich in seiner von vielen Konjunktiven geprägten Sprache widerspiegelt. Er ist kein Held, der sein Leben in die Hand nimmt und uns LeserInnen durch gesicherte Handlungsabläufe führt, steht er doch erst am Beginn der sogenannten Lebenserfahrung.
Auch wenn Xaver Bayers zweites Buch im Gegensatz zum ersten nicht durch und durch geglückt ist, bietet es doch genügend Anhaltspunkte für einen sensiblere Beurteilung der sogenannten Partygeneration. Glück läßt sich nicht immer über die Sprossen einer Karriereleiter und auch nicht über die "richtige" Familienpolitik definieren. Die akribische Darstellung von Unsicherheit und Lethargie, Langsamkeit und Melancholie hebt sich schmerzlich von oberflächlichen Erfolgsstrategien ab und liest sich, so seltsam es klingen mag, spannend. Vielleicht, weil jede/r von uns diese existentialistische Phase durchlebt (hat) und sicher, weil Bayer einfach gut erzählt.