September 2002
Das Wiener Literaturhaus geht ins Radio. Einmal im Monat auf Radio Orange 94.0 berichten die Radiomacherinnen Martina Cizek und Lale Rodgarkia-Dara über Neuigkeiten aus dem Literaturhaus, über KünstlerInnen und aktuelle Veranstaltungen. Zum ersten Mal zu hören sind wir am Mittwoch, den 25. September 2002, von 15 bis 16 Uhr. Neben einem ausführlichen Gespräch mit Elfriede Gerstl werden Arno Geiger und Erich Hackl zu Wort kommen und das aktuelle Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm vorgestellt. Lesen Sie schon jetzt Auszüge aus dem Gespräch, das Karin Cerny und die beiden Radiomacherinnen mit Elfriede Gerstl über Selbstgefälligkeit von Gruppen, persönliche Vergangenheitsbewältigung, ihre Liebe zu einer alten Reiseschreibmaschine und darüber, was Schreiben mit Verliebtsein zu tun hat, geführt haben.
Literaturhaus: In Ihrem Ende der 60er Jahre verfaßten Buch "Spielräume" steht die Wittgensteinparaphrase: "Alles was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen." Man kann das durchaus als Motto für Ihr gesamtes Werk sehen. Woher kommt diese Abneigung gegen jede Art von Pathos, gegen allzu große Gewichtigkeit?
Gerstl: Das ist eine Distanz zu jedem Fundamentalismus, eine Distanz zu jeder hundertprozentigen Gewißheit, zu der Überzeugung im Besitz einer Wahrheit zu sein. Diese Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit ist mir auch in den 60er Jahren und immer schon auf die Nerven gegangen.
Sie haben damals geschrieben: "Jeder Gläubige reizt meinen Widerspruch." Das ist also bis heute aktuell geblieben?
Das ist aktuell geblieben. Und es ist gar nicht auf die Religion bezogen, sondern auf die Sturheit und Unfähigkeit auf Argumente eines Gesprächspartners zu hören. Es ist ängstlich, ein anderes Argument nicht mal zur Diskussion zu stellen oder überhaupt nur zuzulassen, alles abzublocken, was den eigenen Standpunkt verunsichern könnte.
Als Sie zu schreiben begonnen haben, war die große Zeit des politischen Aufbruchs. Sie haben damals mit vielen relevanten literarischen und politischen Gruppen Kontakt gehabt - die Wiener Gruppe, die Berliner Literaturszene -, wo es eine gemeinsame Zielrichtung mitunter auch politisch gab. Sie haben sich aber eher am Rand aufgehalten, oder?
Ich war in keiner Gruppe. Ich kann nicht sagen, daß ich mich irgendeiner Gruppe zuordnen könnte. Ich war Gast in verschiedenen Gruppierungen, die ich in meinen beiden Aufsätzen "Literatur als Erkenntnis" und "Literatur als Therapie" als vaterdominierte Gruppen genannt habe. Es waren immer von einem Chef, Vater, Guru dominierte Gruppen. Ich habe zugehört und habe keine Kritik geäußert, das wäre gar nicht opportun und üblich gewesen. Es war ganz normal, daß Frauen sich nicht äußerten. Anderes ist eine spätere Errungenschaft der Frauenbewegung. Es hat sich, und ich sage das wirklich gerne, sehr wohl etwas geändert. Ich kann nicht einstimmen in den Chor der jammernden Frauen, die meinen, es hätte sich nichts verändert. Es hat sich sehr wohl so manches geändert, sodaß wenigstens dieses verbale Aufbegehren durchaus Alltag geworden ist. Es ist zwar zu wenig geschehen, aber es ist durchaus etwas geschehen.
Sie sprechen in Ihrer Literatur nur selten über ihre Vergangenheit - Sie haben als jüdisches Kind während der Nazizeit sehr lange in Verstecken zubringen müssen, waren mehr oder minder unsichtbar in abgedunkelten Räumen. In Ihren Gedichten taucht das nur am Rande auf.
Ich bin ungern jemand, der über diese Zeit Auskunft gibt. Seit ich es einmal in den 80er Jahren - das ist wie in einer Therapie, wenn man es einmal ausgesprochen hat, dann kann man es wieder sagen - erzählt habe, war es mir anschließend möglich, nachdem ich jahrzehntelang nicht darüber gesprochen oder nur Tagebuchnotizen gemacht hatte, auch anderen Leuten davon zu erzählen. Ich glaube, daß es den Opfern gestattet sein soll, sich zu entscheiden, ob sie darüber reden oder lieber schweigen wollen. Diese Jahre haben mich auf jeden Fall beschädigt. Ich glaube aber nicht, daß durch die Mitteilung dieser Beschädigung, da bin ich antifreudianisch, irgendetwas geheilt werden kann. Ich fühle mich dann neuerlich beschädigt, und möchte dem Feind nicht heute noch Macht geben, meinen Alltag zu vergiften.
Wie sieht denn Ihr Alltag als Autorin aus? In früheren Büchern liest man oft, daß Sie viel im Kaffeehaus schreiben, daß Sie auf Reisen geschrieben haben. Wo schreiben Sie jetzt am häufigsten?
Jetzt kann ich durchaus in der Wohnung schreiben. Ich hatte lange sehr unglückliche Wohnsituationen, und habe deshalb begonnen, im Kaffeehaus zu schreiben. Das ist nicht aus Übermut, sondern aus Not so gekommen. Ich glaube, daß sich auch meine Sammlerleidenschaft der frühen Armut verdankt. Das sind Versuche, sich aus unangenehmen und sozial unbefriedigenden Situationen zu retten. In meiner kleinen Wohnung, man kann ruhig Studentenbude dazu sagen, kann ich schreiben. Es ist keine besondere Störung zu erwarten, ich lasse mich nicht anrufen, ich rufe die Menschen an, ich habe wenig Gerätschaften, die mich stören.
Und was ist Ihre Inspiration zum Schreiben?
Ja, das weiß man nicht. Wenn man Prosa schreibt, muß man sich ein Kalkül und Konstrukt überlegen, das Gedichteschreiben hat andere Voraussetzungen. Ich gehe sehr gerne in der Innenstadt spazieren, manchmal kommt die erste Gedichtzeile auf mich zu. Das Gedichteschreiben ergibt sich aus dem Rhythmus des Gehens, es hat viel mit Körperbefindlichkeiten zu tun. Das wichtigste ist, den Einstieg zu finden. Die erste Zeile, meine ich, muß einem zufliegen. Dann kann etwas daraus werden.
Sie sind eine leidenschaftliche Kleidersammlerin und Flohmarktgeherin. Gerade in der neueren jungen Literatur, die man gerne unter dem Sammelbegriff "Popliteratur" summiert hat, wurde, oft bis zum Überdruß, so etwas wie Mode ein zentrales Thema. Sie haben bereits über Mode geschrieben - Sie hatten auch in der Stadtzeitung "Falter" eine Modekolumne - als es eigentlich noch gar kein Thema war. Wo man als Autorin wahrscheinlich eher schief angeschaut wurde, sich mit so was auseinanderzusetzen.
Ja, aber das war mir immer egal. Ich habe schon früh begonnen zu sammeln und auch das meine ich, verdankt sich einem Mangel. Ich war damals so arm, ich konnte mir kaum einen kleinen Braunen im Kaffeehaus leisten und schon gar nicht, was zum Anziehen kaufen. Einmal hat mir eine Freundin den Tipp gegeben, doch beim Tandler einzukaufen. Dort habe ich dann plötzlich wunderschöne Seidenblusen gekriegt, die genauso viel gekostet haben wie der kleine Braune im Kaffeehaus. Dann habe ich angefangen, jedes zusammengekratzte Geld in Tandelwaren umzusetzen. Und ich habe, vor 28 Jahren beginnend, nach und nach doch ein ziemlich großes Kleiderlager, das auch aus Hüten, Schuhen aus den verschiedenen Jahrzehnten besteht, zusammengetragen.
Zurück zum Schreiben. Ich sehe keinen Computer hier, worauf schreiben Sie?
Ich schreibe auf einer Hermes, einer alten Reiseschreibmaschine, und, wenn eine Diskette von Nöten ist, macht das ein Freund für mich. Aber ich kann und will mich nicht umgewöhnen. Ich weiß, daß ich das lernen könnte, aber ich bin nicht motiviert. Es geht mir nichts ab.
Wenn man in Ihre Wohnung möchte, geht man an einem alten Schreibmaschinenladen vorbei. Kaufen Sie dort ein?
Ja, dieser Laden ist wunderbar. Er führt alte Schreibmaschinen und kann sie reparieren. Es gibt ja kaum mehr Leute, die das können. Mein Händler ist spezialisiert - er kann aus zwei kaputten Hermes eine funktionierende machen.
Ist es für Sie schwierig über Ihre Literatur zu sprechen?
Schreiben ist ein Droge. Reden über Literatur ist: Man spricht in einer sogenannten normalen Situation über eine ungewöhnliche. Man redet langweilig und bieder über einen Zustand, in dem man anders ist, in dem man konzentriert und gesteigert ist. Ich kann im Zustand des Nichtschreibens in Wahrheit nicht über die Erlebnisart des Schreibens reden. Man kann in der drogenfreien Zeit nicht wirklich über die Drogenerfahrung reden. Man kann Kunst auch als eine Art Drogenerfahrung sehen. Ich hab es auch einmal mit dem Zustand der Verliebtheit verglichen. In ruhigen emotionalen Zeiten kann man über diese emotionale Überdrehtheit ja gar nicht wirklich Auskunft geben.
Ein Portrait von Elfriede Gerstl, geschrieben von Klaus Nüchtern, finden Sie hier.