Oktober 2001
Bei jeder anderen Schriftstellerin hätte man sich wahrscheinlich schon getraut, sie die Grande Dame der Kinderliteratur zu nennen. Bei Christine Nöstlinger ist man zu recht vorsichtig. Wahrscheinlich würde sie sich das mit der nötigen Häme verbieten. Grande Dame, wie sich das schon anhört, wie eine rechthaberische Gouvernante, steinalt und schrecklich erwachsen. Alles was schrecklich erwachsen klingt, nach Monument, Strebsamkeit, Angepaßtsein und übertriebener Ordnungsliebe, ist Nöstlinger zutiefst zuwider. Am 12. Oktober 2001 feiert sie ihren 65. Geburtstag. Ein Besuch bei ihr und eine erneute Lektüre: Best of Nöstlinger.
Kommt man zu ihr in die Wohnung, macht man sich schon ein bißchen verdächtig, zieht man, so wie es sich gehört, die Schuhe aus. "Was ist das für ein Haushalt, wo man die Schuhe ausziehen muß!" Kann gut sein, daß Christine Nöstlinger in jedem Erwachsenen noch das Kind sieht, und über Kinder sagt sie: "Ich bin Kindern gegenüber kindisch geblieben. Ich verabscheue Kinder, die beim Spielen die Lehrerin sein wollen." Das mag ungerecht sein, das gibt sie durchaus zu, aber das Schreiben von Kinderbüchern ist keine Angelegenheit, bei der man von einem gesicherten und womöglich gerechten Erwachsenenstandpunkt ausgeht. Es allen Kindern recht machen, das wollte sie nie. "Wenn es um Gefühle geht, um kindliches Bewusstsein, kann ich eigentlich nur auf mich selber zurückgreifen", sagt Nöstlinger. Darum tragen die interessanten Nöstlinger-Figuren auch immer Züge ihrer Autorin.
Gut an die 150 Bücher werden es wohl sein, die Christine Nöstlinger in den letzten 30 Jahren geschrieben hat. Deshalb ist es schwer, von der Nöstlinger-Figur zu sprechen. Ihr Oeuvre ist nicht nur umfangreich, sondern sowohl stilistisch als auch vom Figurenpersonal - von Arbeiter- bis zu Journalistenkindern - vielfältig. Trotzdem gibt es ganz typische Nöstlinger-Figuren. Sie sind aufmüpfig, wissen was sie wollen und haben ihren eigenen Kopf, den sie, wenn es sein muß, auch stur durchsetzen. Zugleich sind sie verantwortungsbewußte Kinder, die, selbst wenn sie noch so frech und gemein sind, im Grunde edel handeln. Aber nicht kitschig edel, sondern auf eine recht bodenständig-realistische Art edel. Meist sind sie gewitzter als ihre Eltern, die sich mit Scheidungen herumplagen und nicht recht wissen, wie sie dem Kind sagen sollen, dass es da jemand neuen in ihrem Liebesleben gibt. Die Kinder wissen das meist ohnehin bereits, schweigen aber taktvoll, um ihre Eltern zu schonen. Es wird gerne darüber gesprochen, wie Nöstlinger das Kinderbild von der verlogenen Heile-Welt-Idylle einer Hanni-und-Nanni-Literatur befreit hat. Nöstlinger hat aber auch am Erwachsenenbild gerüttelt. Erwachsene sind in ihren Büchern keine fertig entworfenen Menschen, die sicher im Leben stehen, sie schwanken auf eine Art genauso hilflos wie manchmal Kinder. Und die, die nicht schwanken, sind jene Streber für die Nöstlinger nicht nur in ihren Büchern wenig übrig hat.
Nöstlinger hat das Talent, über Trauriges amüsant schreiben, was Mut macht. Sie zeigt, daß Understatement auch im Kinder- und Jugendbuch seinen Platz hat. Pathos begegnet sie mit Skepsis. Und an die Kindheit geht sie als Autorin eher unsentimental heran, ohne festes pädagogisches Korsett. Jede Kindheit war schön und schrecklich, sagt sie. Der neue freche Ton, den sie Anfang der 70er Jahre in die Kinderliteratur gebracht hat, wirkt auch heute noch frisch, wenngleich Nöstlinger thematisch auch ihre eher altmodischen Seiten hat. Die Vater-Mutter-Kind-Familie ist noch immer das partnerschaftliche Grundmodell - nur "Hugo, das Kind in den besten Jahren" hat zwei Väter - , Sexualität wird recht dezent behandelt. Nöstlingers Trumpf ist die Sprache, sie liebt Ausdrücke aus dem Wiener Dialekt, die "Pfui-Sprache", und auf die korrekte Rechtschreibung pfeift sie auch gerne mal. Obwohl sie sagt, vieles kann sie gar nicht so schreiben, wie es ist, das würde kein Lektor annehmen. "Eines der zahmsten Schimpfworte meiner Tochter war 'orschgfickta nikolo'". Tagesaktuell war sie nie. Die Namen von angesagten Popgruppen wird man bei ihr vergeblich suchen. "Kann ich ja nicht, die kenn ich ja nicht", sagt Nöstlinger, die einen Widerwillen bei sich ortet, sich das Zeitgeistige anzueignen, "das käme mir so anbiedernd vor, wie soll ich eine Figur, die ich mag, mit etwas ausstatten, daß ich überhaupt nicht mag".
Über die Jahre gewandelt hat sich ihre Einstellung, was Kinderliteratur sein kann. Nöstlinger wollte ja ursprünglich Grafikerin werden, bis sie nach der abgeschlossenen Ausbildung eingesehen hat, daß sie als Grafikerin eher Mittelmaß wäre. Als Journalistin hat sie bei der "Arbeitzeitung" zu schreiben begonnen, in einer feministischen Kolumne, mit der sie des öfteren angeeckt ist ("Ganz harmlose Sachen, warum sich die Leute bloß so aufgeregt haben.") Mit dem Kinderbuchschreiben hat sie zufällig begonnen, auf Anregung eines befreundeten Lektors von Jugend und Volk ("Auf meine Initiative ist noch nie etwas gegangen"). Damals hatte sie das Gefühl, in der Falle zu sitzen, Hausfrau und Mutter ohne festen Beruf war sie, was ihr überhaupt nicht lag, wie sie betont: "Ich habe mich ja nicht zur Hausfrau und Mutter entworfen, ich wollte eine berufstätige Frau sein". In ihrem Debüt, "Die feuerrote Friederike" von 1970, auch selbst illustriert, war sie noch voller gesellschaftlicher Ideale, hat an Utopien geglaubt, und, dass man Kinder zeigen kann, daß es gut ist, sich zur Wehr zu setzen. Mittlerweile tritt sie kürzer. "Ich glaube nicht, daß man ein Kind, das nicht schon am Weg ist, sich zu wehren, durch eine Lektüre anstacheln kann. Ein Kind ist in seiner Familie das machtloseste, und die Machtlosesten zum Aufbegehren zu veranlassen, das finde ich mittlerweile ein bißchen lächerlich, weil ich bin ja nicht dabei, wenn es sich wehrt und unterliegt." Man kann Kindern aber sagen, daß sie mit ihren Schwierigkeiten nicht ganz allein stehen, man kann ihnen gewisse Zusammenhänge im Leben begreifbar machen und man kann sie trösten. Und ganz wichtig: unterhalten.
Christine Nöstlinger wird am 13. Oktober 65. Alt wirkt sie noch kein bißchen. Die letzten eineinhalb Jahre hat sie wenig geschrieben, sie hat gegen den Brustkrebs gekämpft, jetzt aber gehe es langsam wieder bergauf. Sie sieht auf jeden Fall blendend aus. Wenn man mit Christine Nöstlinger redet, dann weiß man, das ist ein Mensch, der läßt sich durch nichts und niemanden klein kriegen. Das ist doch schon mal eine gute Voraussetzung, um Kinderliteratur zu schreiben. Und so soll es auch weiterhin bleiben.
Best of Nöstlinger
Die feuerrote Friederike (1970)
Nöstlingers aufmüpfig-phantastisches Debüt voller Sozialutopie. Friederike hat feuerrote Haare, weshalb sie die anderen Kinder auslachen und sogar quälen. In ihren Haaren aber stecken Zauberkräfte. Gemeinsam mit der Annatante und der Kater-Katze bricht sie in ein utopisches Land auf, wo alle Menschen glücklich sind und kein Kind ausgelacht wird.
Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972)
"Wir ist vertrieben sein von aufständiges Untertanen." Ein Gurkenkönig sitzt und der Küche und bittet um Asyl. Der Vater solidarisiert sich, und der Rest der Familie lehnt sich gegen die beiden Patriarchen auf.
Der Spatz in der Hand (1974)
Nicht utopisch, dafür realkritisch. Bei Kindern ist die wenig beschönende Hinterhofgeschichte der zehnjährigen Lotte Prihoda, die kein eigenes Zimmer, sondern nur ein Gangklo als Rückzugsort hat, gar nicht gut angekommen. Zu wenig strahlend, zu durchschnittlich war ihnen die Figur. Ein spannender Versuch in Sachen wie viel Realität verträgt ein Kinderbuch.
Maikäfer, flieg! (1973) und Zwei Wochen im Mai (1981)
Zwei autobiografische Bände, die von Nöstlingers Kindheit und Jugend im Nachkriegs-Wien erzählen und sozusagen die realen Prototypen ihrer zahlreichen renitenten Mädchenfiguren vorstellen.
Iba de gaunz oaman kinda (1974)
Einer von Nöstlingers Dialekt-Gedichtbänden. Aus der Perspektive von Kindern, die keine Platz zum Spielen haben und Lehrer, die Aufsätze schlecht benoten, in denen "gschbim" wird. Man bekommt ganz schön Wut auf die blöden ignoranten Erwachsenen.
Dschi-Dsche-i Dschunior. Wischer-Briefe (1980)
"Wischer gibt es. Weil es einfach alles gibt." Anfang der 80er war Dschi-Dsche-i Kult. Morgens im Radio erteilte er seine schlauen Lebenshilfetips. Ein Buch, das wo orthodoxe Deutschlehrer in den Wahnsinn treibt. Logo und klaro ein lustvoller Anti-Rechtschreibspielpark.
Gretchen Sackmeier. Eine Trilogie. (1981-1988)
Bei den Sackmeiers sind alle dick, bis die Mama sich emanzipiert. Sie nimmt ab, zieht aus, sucht sich einen Job. Gretchen (14) kommt damit bestens zurecht, nicht aber ihr Bruder. Gretchens Pubertät: Zwei Jungs stehen zur Wahl. Erstaunlich viel Sex für ein Nöstinger-Buch.
Das Austauschkind (1982)
Ein englisches Austauschkind kommt. Jasper ist erziehungsresistent, schlampig und verfressen. Eine echte Herausforderung für die ordentlichen Eltern. Nach und nach macht Jasper die Familie lockerer und verliebt sich sogar. Und Vater verzapft ein Englisch, daß sich die Kinder für ihn genieren.
Hugo, das Kinder in den besten Jahren (1983)
Eines von Nöstlingers Lieblingsbüchern. Hugo fordert eine Gewerkschaft für alte Kinder wie ihn. Motto: "Ich bin ein freies Kind und weiß selbst am besten, was für mich gut ist!". Ein Buch voller Randgruppen in phantastischem Kontext, aber mit ganz schön harten Bandagen. Von Zielgruppenzwängen losgelöste Nöstlinger-Philosophie.
Geplant habe ich gar nichts
Nöstlinger im O-Ton. Aufsätze, Reden und Interviews aus Anlaß ihres 60. Geburtstages.
Die genannten Bücher von Christine Nöstlinger sind Dachs Verlag, Belzt & Gelberg Verlag, Verlag Friedrich Oetinger und Jugend & Volks erschienen.
Zum aktuellen Geburtstag erscheinen einige Neuauflagen. Bei Beltz & Gelberg sind "fünf ausgewählter Romane" in einer Sonderausgabe zusammengefaßt, außerdem erscheint "Das große Nöstlinger-Lesebuch. Beim Dachs Verlag kommt eine "Christine Nöstlinger Werkmonographie" von Sabine Fuchs auf den Markt und zwei Bände von Dani Dachs. Im Verlag Friedrich Oetinger gibt es die drei Bände von "Gretchen Sackmeier" jetzt in einem Band als günstige Sonderausgabe. Außerdem ein Franz-Band mit dem Titel "Franz - Allerhand und mehr".
Dieser Text ist auch in der Falter-Buchbeilage erschienen