März 2005
Der in Bozen geborene Martin Pichler, Jahrgang 1970, erzählt in seinem autobiografischen Roman Nachtreise vom langsamen Tod seiner Mutter. Über die allgemeine Sprachlosigkeit in der Familie und darüber wie der Vater mit der Homosexualität seines Sohnes Probleme hat. Zugleich thematisiert Pichler immer wieder den Prozess des Schreibens, dass einem im Schreiben, im Reflektieren, erst vieles klar wird. Ein Interview per Mail von Karin Cerny.
Karin Cerny: Das sagt sich so leicht: Ein autobiografisches Buch. Aber wird nicht auch alles Erlebte fiktiv, sobald es niedergeschrieben wird?
Martin Pichler: Sprache ist Distanz, steht zu Beginn des Buches. Für das autobiografische Material muss erst eine Form gefunden werden, dabei rückt das Selbst-Erlebte automatisch auch in eine emotionale Ferne, das muss so sein, denke ich.
Sollte ein Autor über das schreiben, was er kennt?
Ich kann nur über das schreiben, was ich kenne oder mir vorstellen kann. Aber das ist meine Einschränkung als Autor und muss nicht für andere gelten. Und es muss auch bei mir nicht jedes Mal autobiografisch im engeren Sinne sein wie bei diesem Text.
Wie lange haben sie an dem Roman geschrieben? Können Sie etwas vom Entstehungsprozess erzählen?
Ich habe am Ostermontag 2002 zu schreiben begonnen und den Text bis auf einige spätere Eingriffe/Überarbeitungen im August 2002 abgeschlossen.
Der Tod der Mutter ist zugleich auch ein Auslöser, das Schweigen über die eigene Homosexualität zu brechen. Woher kommt der neue Mut?
Nachdem einmal das Tabu Tod gebrochen ist, besitzt das Tabu Sexualität nicht mehr dieselbe Macht.
Das erste Wort im Buch ist "Leichenfledderer" und thematisiert die Reaktion des Vaters auf den Text. Wie schwierig ist es, über die eigene Familie zu schreiben? Wie sehr kommt man sich als "Leichenfledderer" vor?
Ich habe diese Stelle bewusst an den Anfang gesetzt, weil ich mich in der Tat zu Vaters "Leichenfledderern" dazuzähle.
Wie sehr wollen einem andere ins Buch reinreden, es "korrigieren"?
Beim Schreiben gewähre ich niemandem Einblick. Erst danach gibt es auch kritische Stimmen von LeserInnen, die sagen, so darf man darüber nicht schreiben. Oder: Dieses Öffentlich-Machen gehe zu weit. Oder: Die ironischen Stellen im Text würden dem Thema nicht gerecht.
Wenn der Vater zum Beginn sagt: "bis zur Pornographie bin ich gekommen, dann habe ich es aufgegeben", dann ist Pornographie zwar kursiv geschrieben, aber man staunt schon, wie wenig explizit das Buch ist. Hab ich was überlesen, haben Sie etwas rausgestrichen, oder findet der Vater das Wort Homosexualität schon als Pornografie?
Vaters Kommentar bezieht sich auf meinen ersten Roman "Lunaspina", in dem es schon etwas expliziter zugeht. Natürlich drängt das Thema Tod alle anderen Themen in den Hintergrund, auch jenes des Eros.
Im Zentrum von "Nachtreise" steht Ihre Mutter - wie schwierig war es, die Balance zu finden, von der eigenen Begehrensstruktur zu erzählen und gleichzeitig vom Tod der Mutter? Das sind im Grunde ja zwei Geschichten.
Das Begehren ist, glaube ich, mein eigentliches Thema als Autor. Ich werde also wieder und wieder davon erzählen. In diesem Buch jedoch geht es nur am Rande darum; dennoch konnte ich auch in diesem Text die Sphäre der Erotik nicht völlig ausklammern.