über seine Recherchearbeit, seine Reisen nach Mexiko und Indien, den Tod seines Vaters, seine jüngste Novelle "Roppongi" und seine Kinoleidenschaft.
September 2007
Karin Cerny: Wie ich vom Verlag gehört habe, kommen Sie gerade von einer Reise zurück. Wo waren Sie denn?
Josef Winkler: Ich war mit meiner Frau und den Kindern für sechs Wochen in Mexiko. Meine Frau hat 700 Leica-Fotos mit nach Hause gebracht, und ich habe 400 Notizbuchseiten vollgeschrieben.
Wie kann man sich das konkret vorstellen, wenn Sie auf Reisen schreiben?
Meine Familie ist vorausgezockelt, ich bin mit Notizblock und Pelikanfüllfeder hinterhergezockelt. Ohne Notizbuch und ohne Füllfeder kann ich nirgendwo hin: ich würde krank und depressiv werden. Ich brauche die Notizen, damit ich aushalte, was ich an Schönem und nicht sehr Schönem sehe. Man hat abertausende Eindrücke, ohne diese 400 Seiten Notizen könnte ich nur 3 Seiten über eine Reise schreiben. Als mein Buch halb voll war, habe ich mir einen Gürtel gekauft und bei den Nieten mein indisches Notizbuch befestigt. In der Botschaft habe dann alles kopiert - wenn mein Material verloren ginge, würde ich wahnsinnig werden. Es ist nicht immer lustig, stundenlang durch eine Stadt zu gehen und immer die Füllfeder in der Hand zu haben. Aber es ist doch ein großes Vergnügen, abends auf dem Zimmer zu sehen, dass die Finger an den Spitzen blau sind.
In Ihrem jüngsten Buch, der Novelle "Roppongi" (Untertitel "Requiem für einen Vater"), verzahnen Sie den Tod Ihres Vaters mit Ihren Reisen nach Indien. Verglichen mit Ihren früheren Texten, die mit dem Vater hart ins Gericht gehen, ist es ein sehr sanfter Abschied geworden. Haben Sie mittlerweile eine indische Gelassenheit entwickelt?
Ich habe mich unzählige Male mittels Schreiben von diesem Menschen zu befreien versucht. Es heißt ja niederschreiben, aber der Teufel steht immer wieder auf. Den wird man letzten Endes nie ganz weg kriegen. Wenn man sich mit jemandem so lange, also eigentlich in allen Büchern, auseinandergesetzt hat, dann muss auch sein Tod, wenn auch auf eine sehr sanfte Art, erneut auftauchen.
Aber der Schrecken des Todes scheint mir nicht mehr so groß.
Ich war knapp 30, hatte mehrere Bücher veröffentlicht und wusste nicht mehr, worüber ich schreiben soll. Dann bin ich als längst erwachsener Mensch zu diesem alten Menschen zurückgekehrt. Mein Vater war damals 75, ich habe ihm bei der Arbeit auf dem Bauernhof geholfen und zugeschaut. Das Ergebnis ist der Roman "Der Leibeigene" - die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Sozusagen mit meinem Filmkamerakopf habe ich jeden einzelnen Winkel in meinem Elternhaus noch einmal durchleuchtet. Mein Ziel war das Schreiben. Damals haben wir uns gegenseitig geholfen, wenn man so will. Es war nicht einfach in diesem Dorf zu leben, es hat ja kein Mensch mit mir geredet - und das ist heute fast genauso. Was gut ist: Stellen Sie sich vor, alle würden mit mir zufrieden sein. Was wäre dann aus mir geworden?
Ihr jüngstes Buch ist auch eine Standortbestimmung, es lässt die beiden zentralen Schauplätze Ihrer Literatur noch einmal antreten: das wilde Kärnten und das stoische Indien. Wo früher noch ein wütendes Ich um sich selbst kreiste, steht jetzt die neugierige Erkundung der Welt.
Früher ist ein Vulkan explodiert. Man spürte die Empörung, das ganze Geröll ist Literatur geworden. Der Vulkan explodiert heute zwar noch immer, aber disziplinierter. Das Hauptthema ist für mich heute: wie sage ich etwas? Form und Stil sind wichtig, den Inhalt nehme ich sowieso in den Schlepptau. Die ganzen Utensilien der katholischen Kirche schleife ich hinter mir her, die Kirchtürme, die Monstranzen, die Hostien. Ich gehe durch Klagenfurt und schleife den ganzen Dreck, in dem ich aufgewachsen bin, hinter mir her. Ich halte nichts von Mitteilungsliteratur und Austrorealismus, wie ich ihn bezeichne. Diese Literatur langweilt mich zu Tode. Einer, der gut schreiben kann, ist ja gleichzeitig ein besonders guter Leser, weil er sich überlegen muss: wie funktioniert diese elegante Sprachmaschine.
Sie beschreiben in "Roppongi" auch einige Indien-Szenen, die bereits in "Domra - am Ufer der Ganges" (1996) vorkamen - allerdings mit einigen Verschiebungen, etwa der Name Ihrer Frau wird diesmal genannt.
"Domra" ist aus meinen Aufzeichnungen entstanden, ich habe mein "Ich" extrem zurückgenommen. Es taucht zwar öfter auf, aber es ist weit hinten. Das Objekt des Buches ist das Auge. Ich habe diese Einäscherungen beschrieben und gehofft, dass durch diese andere Welt auch eine andere Variation in meine Bücher kommt. Das ist mir nur teilweise gelungen, weil ich auch dieses Buch im Rhythmus der christlichen Litanei geschrieben habe. Die katholische Kirche, dieser alte gigantische Kirchturm steckt in mir drinnen, dieser Stachel wird das ganze Leben nie rauszuziehen sein, selbst, wenn ich zu anderen Themen wie Indien gehe: der Klang wird bleiben. Aber vielleicht gelingt es mir, auch diesen Ton einmal zu bekämpfen und etwas anderes zu finden.
Für "Domra" haben Sie ähnlich recherchiert, wie Sie es für Mexiko beschreiben. Haben Sie für die Indien-Szenen in "Roppongi" noch einmal in diesen alten Notizbüchern geblättert?
Monatelang, fast täglich bin ich zwischen den Scheiterhäufen gesessen. Ich halte noch heute, wenn ich im Sommer durch die Straßen von Klagenfurt gehe und jemand grillt, diese geruchliche Verbindung aus Holz und verkohlendem Fleisch nicht aus. Die Indien-Passagen in "Roppongi" sind aus dem Kopf entstanden. Ich habe kein einziges Mal mein indisches Notizbuch aufgeschlagen. Dieses Schreiben aus der Erinnerung ist für mich eine ganz neue Schreiberfahrung. Ich war inzwischen 8 Mal in Indien, habe an die 13 Monate vor allem in Benares verbracht. Wenn man etwas so intensiv lebt, ist es möglich, einfach aus dem Kopf zu schreiben.
In "Roppongi" beschreiben Sie zwei höchst unterschiedliche Arten mit dem Tod umzugehen: die in Kärnten und die in Indien.
Ich weiß nicht, ob man von einem Vergleich sprechen kann, es ist eine Erfahrung. In Österreich sind die Begräbnisse anders als die Einäscherungen in Indien. Bei uns ist alles schwarz, traurig und entsetzlich. Wenn ich mir allein bei einer Bestattung einen Sarg anschaue, dann wird mir schon schlecht. In Indien freuen sich die Verwandten natürlich auch nicht, wenn ein Angehöriger stirbt, aber es ist doch ein ganz anderer Glaube. Es heißt ja, wenn der Tote bei der Einäscherung besonders beweint wird, dann kommt er schwerer in den Himmel. Deshalb sind die Angehörigen nur in den ersten Minuten ganz still, sobald das Feuer angezündet wird, bewegen sie sich, beginnen zu rauchen und zu reden. Es ist nicht so bedrückend, so entsetzlich - aber ich will keinen Vergleich anstellen.
Werden Sie denn ein Mexiko-Buch schreiben?
Konkurrenz zu Inden ist Mexiko keine. Indien ist das größte, weil es so wunderbar fremd und mir dadurch auch so nah geworden ist. Weil es noch so viel für mich zu erobern gibt. Mexiko ist christlich-katholisch, anders als bei uns, viel freier, blasphemisch eigentlich. Stellen Sie sich vor, im Fronleichnamszug sind quietschende und laute Kinder und ein Besoffener, das wäre bei uns nicht möglich. Aber bei Prozessionen in Süditalien, Spanien oder Mexiko habe ich es selber gesehen: da wird ein ganz normales Leben selbst in der Prozession geführt. Bei uns wird das Leben ausgespart, man geht wie eine Maschine. Als ich in meinen frühen Büchern über Kärntner Rituale erzählt habe, wurde das sehr blasphemisch aufgenommen - in Mexiko sehe ich jetzt diese Blasphemie auf der Straße, und für die Leute dort ist es gar keine. Dort ist es auf der Straße, und in Österreich ist es nur in meinem stillen Kämmerlein.
Glauben Sie, dass der Tod Ihres Vaters Ihr Schreiben verändern wird?
Das wird sich beim Weiterschreiben herausstellen, aber möglicherweise bin ich dem schon vorausgeeilt. Obwohl ich in Indien über Tod und Einäscherungen geschrieben habe, war es ein Themenwechsel: ich bin woanders hin gegangen. Selbstverständlich habe ich nur angeschaut, was schon in mir drinnen steckt. Ich kann ja nur das sehen, was in gewisser Weise schon in mir vorhanden ist.
Hat sich Ihr Blick auf die Welt durch Ihre Familie verändert?
Mein Sohn ist 12, meine Tochter 4 - was bin ich früher auf Friedhöfe gelaufen. Das mache ich schon lange nicht mehr so gern. Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten 10 Jahren auf einem Begräbnis gewesen zu sein. Bevor die Kinder auf der Welt waren, bin ich gern Zaungast gewesen, habe über die Mauern oder durch die Ritzen geschaut. Es ist mir gar nicht möglich, in die Kindergräberabteilung zu gehen, früher war ich dort gerne. Dass ich das Leben mehr suche als dieses Nekrophile ist zwangsweise durch die Kinder gekommen.
Ihr Buch schließt mit der Abschiedsszene aus "Winnetou III". Wie oft haben Sie den Film denn schon gesehen? Weinen Sie noch immer?
Ich weiß gar nicht, wie oft, aber ich schaue ihn mir noch immer gerne an. Mein Sohn schaut die Winnetou-DVDs auch gerne. Im Kino muss ich fast immer weinen, es ist fürchterlich, selbst, wenn ein halbdummes Filmchen läuft. Mit 14, 15 bin ich immer heimlich ins Kino gegangen: dorthin, wo die Bilder sind. Jetzt bin ich zwischen den Buchdeckeln bei den Bildern: bei mir gibt es ja wenig Sätze, die kein Bild sind.
Eine der schönsten Szenen des Buches spielt auf den Film "Lost in Translation" mit Scarlett Johansson und Bill Murray an. Wie kam es dazu?
An dieser Szene habe ich lange gearbeitet: ich hatte ein halbes Jahr keine Zeile geschrieben, vergangenes Weihnachten war sie plötzlich da. Außerdem finde ich, Scarlett Johansson ist eine tolle Schauspielerin. In "Lost in Translation" habe ich sie für mich entdeckt - und habe mir dann alle Filme mit ihr besorgt. Nur den "Pferdeflüsterer" konnte ich nicht anschauen: ein entsetzlicher Film, nach 10 Minuten musste ich abdrehen.
(Interview vom Autor autorisiert, aber nicht bearbeitet)