Man hat die Nazis zurecht "Mörder der Erinnerung" genannt. Das ist vielleicht der schrecklichste Aspekt an all dem, was sie zerstört haben. Die Geschichte von ganzen Gemeinden wurde zusammen mit der ihrer Mitglieder ausgelöscht, so als ob es sie niemals gegeben hätte. Die gemeinsamen Erinnerungen, die Anekdoten über Onkel X und Cousin Y sind verloren und können niemals mehr zurückgebracht werden. In Anbetracht dieser Tatsache kam ich mir wie eine Archäologin vor, die Keramikscherben ausgräbt. Ich kämpfte damit, Teile eines Puzzles zusammenzufügen, das mir eine persönliche Identität verschaffen würde. Zuerst war ich ein Flüchtling gewesen, der am Rande der polnisch-jüdischen Gemeinde seiner Zieheltern aufgewachsen war und dann später die Schwiegertochter, die man mit Anekdoten über die Familie ihres Mannes überschwemmte. Trotz des spärlich vorhandenen Materials, das mir jetzt zugänglich war, versuchte ich eine Person mit einer eigenen Geschichte zu werden.
Erst fünfunddreißig Jahre, nachdem ich Wien verlassen hatte, konnte ich die schicksalhafte Reise retour antreten. Dieses Mal befand ich mich in einem Auto. Als wir die Grenze von Belgien nach Deutschland überquerten, stieg in mir das Grauen auf. Was würde ich auf der anderen Seite vorfinden? Ich war überrascht, daß die Sonne genauso hell wie in Belgien schien und daß Menschen auf den Straßen ganz normal ihren Geschäften nachgingen. Als ich Passanten in meinem nicht allzu flüssigem Deutsch nach dem Weg fragte, erwiesen sie sich als freundlich und hilfsbereit. Die Vergangenheit erschien mir unerklärlicher als je zuvor. Wir unterbrachen unsere Fahrt und campierten in Regensburg. Dann folgten wir der Donaukrümmung nach Osten. Als wir uns Wien näherten, befiel mich eine Panik, und ich war dafür, die Reise abzubrechen. Mein Mann ermutigte mich jedoch weiterzufahren, bis wir auf einem überfüllten Campingplatz im Westen von Wien Halt machten.
Ich hatte nicht erwartet, daß ich mein altes Haus so leicht wiederfinden würde. In meiner Erinnerung versteckte es sich in einem halbvergessenen Niemandsland, wie es Judy Garland in ihrem Lied "Somewhere over the Rainbow" besingt. Es erstaunte mich daher sehr, daß ich meinen Weg in den Bezirk Margareten, wo ich einst gewohnt hatte, leicht fand. Wir nahmen eine Straßenbahn zur Ringstraße, von der aus ich den Stephansdom erkannte, dessen Kriegsschäden nicht mehr zu sehen waren. Wir gingen an der Oper und dem Parlament vorbei, vor dem die Statue der Pallas Athene, der Göttin der Weisheit, steht. Ungefragt ließ ein Passant, wahrscheinlich nachdem er uns Englisch reden hörte, die Bemerkung fallen: "Sie werden feststellen, daß sie dem Gebäude den Rücken zugewandt hat." (S. 220ff.)
(c) 1998, Picus, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.