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Leseprobe: Eva Kollisch - Der Boden unter meinen Füßen.

In der Volksschule hatte jeder von uns ein paar Freunde und ein paar Feinde. Der Weg zur und von der Schule durch die Helenenstraße oder die Abkürzung durch die Felder und Weingärten war immer eine Nervenprobe. Wenn wir unsere Freunde trafen, war alles in Ordnung. Aber wenn wir die Feinde trafen, dann nicht. Wir hatten die Wahl zu kämpfen oder zu rennen. Oft hatten wir keine Wahl.
Ein Schlosser in unserer Nachbarschaft erzählte meiner Mutter einmal, dass er mich (und ich glaube, mein älterer Bruder Stephan war damals auch dabei) bei einer Rauferei mit einer ganzen Gruppe von Kindern beobachtet hatte. Er sagte, sie solle stolz sein, dass wir so tapfer gewesen waren. Aber ich erinnere mich nicht daran, tapfer gewesen zu sein. Wenn du sowieso geprügelt wirst, dann versuchst du einfach einige Schläge oder Tritte oder einen gut platzierten Batzen Spucke anzubringen. In einer Schlägerei trifft das alte Sprichwort zu: "Geben ist seliger denn nehmen." Aber wir waren immer in der Minderheit. Zum Klang von
Jud, Jud, spuck in Hut
Sag der Mutter, das ist gut
wurden wir gejagt und fast immer niedergeschlagen. Meine demütigendste Erinnerung ist, wie ein Teil der Spucke, mit der ich einen Buben, der mich am Boden festhielt, treffen wollte, in mein eigenes Gesicht zurückfiel. Aber warum hat dieser Schlosser nicht eingegriffen? Meine Mutter sagte, es war eine Rauferei unter Kindern. Ja, aber es waren so viele gegen uns! Noch heute bin ich verwundert über diesen allzu neutralen Mann.

[...]

Bald nach diesem Tag in den Bergen wurde meine Mutter geholt, um den Boden der Synagoge aufzuwaschen, bevor diese zu einem Pferdestall gemacht wurde. Das war ein lokaler Zeitvertreib geworden. Jeden Tag wurde eine Handvoll Jüdinnen von ihren Nazi-Nachbarn zusammengetrieben, um dieses Schauspiel zu bieten. Es galt als amüsant, diese wohlhabenden Damen, von denen die meisten arische Dienstmädchen gehabt hatten, auf Händen und Knien zu sehen. Als die SA kam, um meine Mutter zu holen, war sie bereit, mit einem neuen Kübel und einer Bürste. Sie steckte die Rot-Kreuz-Nadel an, die sie als freiwillige Krankenschwester im Ersten Weltkrieg bekommen hatte. Sie wurde zum Aufwaschen geführt, mit ihrer Nadel, den Kübel über dem Arm, flankiert von zwei SA-Männern. Als sie einige Stunden später zurückkam, war sie mit sich selbst zufrieden. Sie erzählte uns, dass sie eifriger geputzt hatte, als irgendeine andere jüdische Frau, um den Gojim zu zeigen, dass sie sich nicht scheute, sich die Hände schmutzig zu machen. Und als alles vorbei war, hatte ein ihr bekannter SA-Mann sie gelobt, weil sie so bereitwillig mitgemacht hatte. Mit der Rot-Kreuz-Nadel, die ein Symbol für Menschenliebe war, hatte es keine Probleme gegeben. Sie zu tragen, erklärte unsere Mutter uns, hatte ihr das Gefühl gegeben, dass sie unter all ihren Verfolgern und der immer größer werdenden Zahl von Nazis in unserer Nachbarschaft eine richtige (das heißt eine "zivilisierte") Österreicherin geblieben war.

© 2010 Czernin Verlag, Wien

 

 

 

 

 

 

 

 

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