Patricia, 21
Ja, ich bin eine Enkelin von Rieke, nein, bei Onkel Manfreds Begräbnis war ich nicht, geht auch keinen etwas an, warum ich nicht dort war, mir wird heute noch schlecht, wenn sie nur seinen Namen sagen, immer mit diesem frommen Augenaufschlag. Der gute Onkel Manfred, Großpapas älterer Bruder, der Stolz der Familie, Träger dieses und jenes Ordens, und so kinderlieb. Von mir aus sollen sie ruhig denken, ich hätte keinen Familiensinn, hab ich wahrscheinlich nicht, wozu auch, Uroma ist tot, die Familie gibt es nicht mehr, keiner wird in schwarz und grau umrandeten Umschlägen zur Verabschiedung eingeladen, kein Drama, bloß vorbei, das versickert einfach, nicht wie im Karst, wo sich das Wasser zu unterirdischen Flüssen und Strömen sammelt. Hier fließt nichts, hier strömt nichts, das trocknet ein, weg ist es, nie da gewesen, so einfach ist das. Das zersplittert in viele kleine Familien, Mama-Papa-einskommasiebzehn Kinder, wer ist das Komma, du oder ich, ist ja auch egal, nullkommaacht Hunde, nullkommaneun Katzen, wie wollen wir eine Familie sein, so viel ich weiß, gibt es in diesem ganzen Clan weder einen Hund noch eine Katze. Zu Weihnachten kommen die Großeltern, es gibt Gans mit Knödeln und Rotkraut, die Kastanienfülle nicht zu vergessen. Es muss nur eine oder einer heiraten, promovieren oder sterben, und sie werden alle auftauchen, ordentlich frisiert und dem Anlass entsprechend gekleidet, wie es sich gehört, und alle werden die Bäuche einziehen und feststellen, wie alt die anderen geworden sind. Es soll ja Familien geben, wo eine jede und auch ein jeder alle anderen liebt, Familien, die nichts Schöneres kennen, als miteinander möglichst viel Zeit zu verbringen. Quality time heißt das heute. Ich weiß nicht, ob ich daran glauben soll, aber bitte, ich bin ganz offen, wenn mir jemand eine solche Familie zeigen kann, werde ich sie voll Begeisterung begrüßen. Von mir aus sogar Kuchen backen. (S. 49f)
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