16 macrocarpa
Eine erst in den achtziger Jahren beschriebene Kaffeeart von der Insel Mauritius. Kommt im Regenwald und in Feuchtwäldern in Höhenlagen von 280 bis 700 Metern über dem Meeresspiegel vor. Bedroht durch die Ausbreitung eingeschleppter Arten. Die Gesamtzahl der noch vorhandenen Individuen weltweit wird auf weniger als Zehntausend geschätzt.
Hallo, sagt das Pferd. Es spricht das Wort aus wie dieses Mädchen im Film. Das Pferd steht in der Küche, ist hell-braun mit orangefarbigen Strähnen auf dem Rücken, fast weißer Mähne, nur an den Flanken hat es einige dunklere Flecken. Das Pferd ist eineinhalb Meter hoch und wächst. Es bläht sich auf, als ob ein Blasbalg in ihm steckte. Gern hätte Fiat dem Pferd auch so ein wunderbares Hallo gesagt, mit der Eloquenz des Mädchens im Film, entschlossen und verführerisch. Aber er sagt nichts. Er steht stumm da und schaut. Das Pferd schwillt an wie Germteig und ist inzwischen so groß geworden, dass die Nüstern den oberen Rand des Küchenkastens berühren.
Fiat wollte gerade in die Küche gehen, um das Futter für die Schleichkatze herzurichten, die Küche ist aber mit einem Pferd angefüllt. Er bleibt zwangsläufig im Türrahmen stehen. Wenn es weiter anschwillt, wird es die Küche zum Platzen bringen, die Wohnung. Das ganze Haus wird explodieren. Und alle miteinander, samt der Schleichkatze, werden sie durch die Luft fliegen.
Der Atem des Pferdes geht ruhig, obwohl es mit dem Rücken den Plafond berührt. Fiats Herz rast. Ein Teller zerbricht, weil der eingeklemmte Schweif des Tieres dagegen drückt.
Ausgerechnet jetzt, wo das Experiment gut angelaufen ist, muss eine Katastrophe passieren? Von allen möglichen Folgen der Explosion, die das anschwellende Pferd gleich auslösen wird, würde Fiat die Unterbrechung des Kaffeeexperiments am ärgsten treffen. Er will es zu Ende bringen. Jetzt, da es gut läuft, findet er Gefallen daran. Und er will reich werden. Er spürt, dass es funktionieren kann, dass sich ein Handel etablieren lässt. Er fühlt Ehrgeiz. Um sein Leben fürchtet er eigentlich nicht, an sein Leben denkt er nicht einmal; dass er samt allen Utensilien dieses Hauses, samt Mauern und Möbelteilen und Haustieren durch die Luft fliegen würde, wenn sich das Pferd als Blasbombe erweist.
Der Verputz kracht und bröckelt. Die Ohren des Tieres werden flach gedrückt, dann beginnen sie einzureißen. Dass es nicht tobt vor Schmerz! Dass es nicht brüllt! Es kann doch reden, hat gerade noch Hallo gesagt, mit dieser unglaublich angenehmen Stimme. Kein Wesen schwillt derart an, ohne inneren Schaden zu erleiden. Fiat tastet in seiner Hosentasche nach dem Telefon, es ist ausgeschaltet, weil er immer befürchtet, die SMS, die Firmen zur Werbung schicken, könnten ihn Geld kosten. Geld, das er nicht hat. Kann man in so einem Fall die Feuerwehr rufen? Er schaltet es ein, das Display blinkt bläulich, um sich in die anfängliche Schwärze aufzulösen. Der Akku ist leer. Das Telefon hat sich entladen, obwohl es seit Wochen nicht eingeschaltet war. Fiat kann seine Augen nicht von dem Tier abwenden. Gleich wird es sich das Genick brechen. Daran hat er nicht gedacht. Bevor das Haus explodiert, bricht das Pferd sich das Genick.
Fiat hat keine Ahnung von Pferden, aber auch keine Angst. Er tut, was er kann; und was er in Filmen gesehen hat. Er holt sich einen Sessel, steigt hinauf, streckt sich, streckt die Arme bis zum Nacken des Pferdes, der gegen den Verputz drückt, legt eine Hand auf die Nüstern, mit der zweiten greift er in die Mähne und flüstert beruhigend sssschhhhhhh.
Das Pferd schnaubt sanft, fletscht die Zähne, liebenswürdig, wie Fiat findet. Er lässt die Hand im Fell. Seine Kehle produziert tiefe brummende Laute.
Das Pferd reagiert. Und schrumpft. Als es die normale Größe eines Reittiers erreicht, nimmt Fiat seine Hand von ihm und steigt vom Sessel. Doch es wird noch kleiner; kleiner und kleiner. Erst als es ihm mit der Nase gerade noch bis ans Knie reicht, kommt das Schrumpfen zum Stillstand. Mitten in der Bewegung innehaltend, als könnte ein falscher Dreh auch jetzt noch etwas zum Explodieren bringen, verharrt Fiat einige Minuten lang regungslos. Aber das Pferd scheint seine Form gefunden zu haben. Es beugt den Kopf hinunter und beginnt am Boden herumzusuchen, als würde es grasen. Gras wächst keins in der Küche.
Fiat geht in die Hocke, umarmt das kleine Pferd. Wie zart sich seine Knochen anfühlen, er ist überrascht. Wenn er an ein Pferd denkt, denkt er an ein starkes Wesen, das für einen arbeiten kann, einen trägt. Dieses hier kann er ganz leicht tragen. Wie vertraut es ihm vorkommt, wie vertrauensvoll es sich von ihm halten lässt. Fiat kommt aus dem Erstaunen nicht mehr heraus und hat das Pferd schon ins Herz geschlossen. Falls er sich nicht täuscht, hat er noch nie mit Pferden zu tun gehabt. Doch dieses Pferd gehört zu ihm. Die Kaffeekatze ist ihm viel fremder, obwohl sie in der Wohnung lebt. (Beziehungsweise in Haft ist, um ehrlich zu sein. Er will doch ehrlich sein.) Liegt es daran, dass das Pferd freiwillig erschienen ist?
Fiat tätschelt das kaum fünfzig Zentimeter hohe Tier an der Flanke und richtet sich auf Das hat ihm gerade noch gefehlt. Soviel weiß sogar ein Fiat, der sich bisher für die Natur, für alles, was nicht direkt mit Menschen zu tun hat, nicht interessiert hat: Pferde hinterlassen Pferdeäpfel; Pferde fressen Gras. Beides unvereinbar mit dem Leben in einem im fünften Stock eines Hauses befindlichen Apartment.
Was soll ich nur mit dir machen? Wo kommst du überhaupt her?
So vollendet der anfängliche Gruß war, jetzt spricht das Pferd kein Wort mehr.
Vielleicht hat es Durst. Das Wachsen und Schrumpfen macht bestimmt durstig.
Fiat füllt eine Schale mit Wasser und stellt sie dem Pferd hin. Dann inspiziert er den Schaden am Plafond; eine Delle, und die Sprünge ziehen sich sternförmig bis zu den Zimmerecken hin. Diese Geschichte würde Finzens ihm nie und nimmer glauben. Aber er hat alles leibhaftig miterlebt, das Wachstum des Pferdes mit eigenen Händen gestoppt! Die Küche gerettet, das Haus.
Warum sieht einem bei den wirklich großartigen Taten nie jemand zu? Ist er nicht ein Held? Ein echter Held, der womöglich eine ganze Stadt davor bewahrt hat, in die Luft zu fliegen, weil er verhinderte, dass ein Pferd ins Riesenhafte wuchs.
Das Pferd erkundet die Umgebung. Es macht zwei Sprünge, verfällt in einen kleinen Trab. Es ist so klein, dass es von einer Ecke des Wohnzimmers in die andere traben kann. Meine Herren, denkt Fiat und bemerkt, dass er den Ausdruck von Finzens hat. Meine Herren, so etwas geschieht doch nicht, nur ihm geschieht so etwas.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, nimmt er die Einkaufstasche und geht hinaus auf die Straße. Er braucht Kirschen für die Schleichkatze und Lebensmittel für sich und Finzens. Bevor er geht, sperrt er das Pferd in die Küche, dort würden sich die Pferdeäpfel am leichtesten wegräumen lassen. Gerade hat es im Wohnzimmer schon einen fallen lassen; zwar klein, aber sehr saftig. Fiat seufzt und flucht, er ist immer dagegen gewesen, dass Tiere in der Stadt gehalten werden, in aufeinandergestapelten Betonschachteln. In Zimmern, die den Namen nicht verdienen. Zimmer müssten anders sein, heller, geräumiger, dass man sie mit Erleichterung betritt, sich sicher weiß und zugleich strecken kann. Die Decken der modernen Wohnblockwohnungen sind zu niedrig, findet Fiat. Fische gedeihen auch in großen Aquarien besser, schwimmen flinker und werden größer, glänzender. In dieser Hinsicht sind Menschen wie Fische, denkt er, Menschenfische. Auch die Wohnung hier ist eine moderne Wohnblockwohnung mit niedriger Decke. Nur deswegen spielte das Pferd innerhalb kürzester Zeit mit dem Leben, als es anfing zu wachsen. In einem echten Zimmer, das den Namen verdiente, hätte das Pferd viel größer werden können, und Fiat wäre mehr Zeit zum Überlegen geblieben. Und wer weiß.
(S. 113 ff)
© 2010 Otto Müller Verlag