3. 12.
es ist möglich, das billigleben in tokio: die 100-yen-shops, die 1000-yen-friseure, die reisballen um 110 yen, die automatenkaffees um 120. die second-hand-läden, die ramschmärkte.
doch eigentlich waren wir ausgegangen von den fünf höflichkeitsverben, von denen nikolaus im augenblick nur vier einfallen. dudasaru, gozaru, nasaru und ossharu – "ja, kommen wir zu keigo, zu der absoluten höflichkeitsform, die niemals schaden kann!" ich höre sie mir an: erzählungen über eine sprache, die ich nicht beherrschen werde. neben den "ufo-catchern" und arcade-konsolen, der ganzen konami-spielewelt, die stufen der höflichkeit, deren finessen einem ausländer ohnehin lange verschlossen bleiben.
doch eigentlich waren wir davon ausgegangen, dass ich gar nicht bis zehn zählen kann, was ich stolz angenommen hatte. dass ich die unterschiedlichen zählformen noch nicht wirklich beherrsche, denn es gibt mehrere zahlennamen – eine zahl hat nicht nur eine bezeichnung, es sind mehrere systeme, die koexistieren und denen unterschiedliche bedeutungen zugeordnet werden können. Zum beispiel zählt man lange dinge oder flache dinge verschieden – dies geschieht formal entweder durch suffixe, welche die lautliche gestalt der zahl verändern, oder auch durch die separate verwendung chinesischer und japanischer zahlennamen. es gibt die art, wie kinder zählen und die art, wie erwachsene zählen, und es gibt die unterschiedlichsten meinungen selbst darüber. wie seltsam hören sich diese geschichten über eine sprache an, die ich doch nie erlernen werde.
1.12.
beim gespräch mit dem richter höre ich hauptsächlich meine dolmetscherin sugi shindo sprechen, die mir das ins schönste österreichisch übersetzt, was der relativ junge richter des landesgerichts, der seibansho, erzählt. ich weiß nicht, wen ich ansehen soll. den richter oder sie. die höflichkeit gebietet mir, ihn anzusehen, sie aber möchte ich ansehen, weil sie letztlich die ist, deren worte ich entgegennehmen kann. denn im gegensatz zu waren kann man ja worte nicht entgegennehmen, die man nicht versteht. sie bleiben in der luft hängen. zum beispiel jiko hasan – privatinsolvenz. das trifft sich gut, denn auch die scheint in japan, allerdings in der üblichen indirektheit, vorzukommen, das aber in rasant steigenden zahlen, wie überall in der westlichen welt. und schon tauchen aus sugis mund beispiele auf, erstaunliche parallelvorgänge zu der situation in europa, wie der kimono-kaufrausch, dem hier japanische frauen mittleren alters zum opfer fallen. allerdings werde die problematik oftmals nachbarschaftlich gelöst, habe der richter gesagt. oder, wie mir später von anderer seite erzählt werden wird, über den selbstmord des familienoberhaupts. aber das gehört nicht in dieses gespräch. (genauso wie der berüchtigte "selbstmörderwald" in der nähe des fuji, von dem mir heinz d. heisl später erzählen wird, in den anscheinend zahlreiche menschen gehen, um ihrem leben ein ende zu setzen, oder der "selbstmörderzug", eine bahnstrecke, die ebenfalls für diesen zweck besonders gerne benutzt wird. folkloristisch anmutende erzählungen, die später weitaus mehr hängen bleiben werden als der seltsame gleichklang der geschichten über die ganz alltägliche privatinsolvenz.)
30.11.
die unverständlichkeit, die ich hier andauernd, vor allem bei lesungen, ausstrahle, wird langsam anstrengend. die gesichter vor mir bewegen sich nicht. sie bemühen sich zuzuhören, sie zeigen ihre ratlosigkeit nicht. die gesichter bewegen sich schon wieder nicht. ich habe schließlich was gefragt. es wird gewartet. man sieht mich an. ich frage nochmals anders. ich frage, ob sie verstanden haben. es ist höflich, nach einem vortrag oder einer lesung zu warten in japan, sagt man mir immer wieder, es ist ein zeichen von respekt, in der sich anschließenden öffentlichen diskussion nicht sofort fragen zu stellen, sagt man mir, doch ich glaube nicht daran. nein, ich bin nicht klar genug. meine rede ist auch wirr, sie kann die dinge nicht auf den punkt bringen. zusammenfassen. ich höre mich beispielsweise irgendein geschwurbel über strukturalismus und poststrukturalismus von mir geben, alle theoreme zerfasern heute, fallen mir im mund schon auseinander, aber nicht hofmannsthalartig, sondern ganz banal. ja, meine rede ist wirr, aber sie ist deswegen wirr, weil ich so gar keine reaktion bekomme. ich merke, wie sehr ich von den kleinen rückmeldungen meines publikums abhänge, wie ich nichts formulieren kann, wenn die verständnis- oder auch die konkrete unverständnisreaktion ausbleibt. schon in erwartung meiner allgemeinen und grundsätzlichen unverständlichkeit betrete ich hier die bühne und habe auch danach den eindruck, nicht die leute, sondern die unverständlichkeiten geben sich die hand.
(S. 36ff)
© 2009 Verlag für moderne Kunst Nürnberg,
Edition starfruit.