aus "NO"
In der Kaffeepause gab Dvir Melanie Laidlaw ein Zeichen, sich ihm auf dem angrenzenden Balkon anzuschließen, dem einzigen Ort in der Nähe, der ein wenig Ungestörtheit bot. Keiner sprach, als sie sich, Seite an Seite, auf die Balkonbrüstung lehnten und auf den gepflegten Rasen hinunterblickten, in dessen Mitte eine Betonsäule stand, die zwei auf Kugellagern ruhende gigantische L trug - eine kinetische Skulptur aus Edelstahl von George Rickey. Die beiden Ls bewegten sich langsam in der leisen Brise, jedes auf seinem eigenen zylindrischen Pfad, scheinbar stets im Begriff, miteinander zusammenzustoßen, ohne es natürlich zu tun. Die Schlichtheit der Konstruktion, gepaart mit der Komplexität der eigentümlichen Bewegungen der beiden riesigen Buchstaben, verlieh diesem Kunstwerk seinen ganz speziellen Reiz.
Schließlich brach Melanie das Schweigen. Sie deutete auf die Rickey-Skulptur: "Versuche mal den Moment zu erhaschen, wenn sie sich spiegelbildlich gegenüberstehen. Wenn das eine L nach rechts weist und das andere nach links. ... Jetzt!", rief sie aus. "Hast du es gesehen?" Zum ersten Mal drehte sie sich zu ihm um und sah ihn direkt an.
"Der Buchstabe L", sagte er leise, ohne ihren Blick zu erwidern, "ist vermutlich der schönste Buchstabe des ganzen Alphabets: Licht, Luft, Lachen, Leben - "
"Nicht zu vergessen Liebe und Libido", sagte sie lachend.
"Ich war noch nicht fertig. Außerdem Leidenschaft und Lust, Lippen und Lenden -"
"Ja", murmelte sie. "Und Liaison, Logik und Loslassen."
Er sah sie an. "Du hast Recht. Er ist nicht perfekt. Da sind auch Lüge, List -"
"Nicht, Menachem", bat sie. "Was ist mit Langmütigkeit?"
Er nickte. "Lama lo? Zwei weitere Wörter, aber die zählen nicht." Er berührte leicht ihren Arm. "Sag mir eins, Melanie: Wusstest du, dass ich im Aufsichtsrat sein würde, als man dir einen Sitz angeboten hat?"
"Zunächst nicht."
"Aber dann hast du es herausgefunden?", fragte er drängender.
"Ja, aber das war, bevor ich akzeptiert habe."
"Und du warst dennoch einverstanden?"
"Wie du siehst", sagte sie, "bin ich hier."
(S. 308 f.)
© 2005, Haymon Verlag, Innsbruck - Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.