Auszug aus der Erzählung "Bessere Menschen"
Der Junge, den Baum mit den Kopf gegen den Boden geschlagen hatte – ungespitzt in den Boden rammen nannte man das im Prügeljargon –, war im Halbjahr von der Schule genommen worden. So wie Baum mit ihm umgegangen war – so völlig haltlos wie es sonst nicht seine Art war –, hatte man Angst haben müssen, daß er ihn eines Tages umbrachte. Anderes kam hinzu: Der Spitzname des Jungen war Das Mädchen. Alles an ihm war weich. Kaum eine Nacht, in der er seine Ruhe hatte. Wanderte durch die Betten. Rauch hatte sich nicht eingemischt. Vielleicht, wenn sie im selben Schlafsaal gelegen hätten... Einmal hatte er versucht, mit dem Mädchen zu reden. Aber da war nur Angst. Reiz der Schwäche. Lust zu quälen. Rauch hatte das Gespräch abgebrochen ... Das Mädchen hatte nichts getan, nichts Besonderes gesagt, aber in Rauch Gefühle geweckt, die er nicht wollte. Die ihn gleich machten. Alle waren gegen das Mädchen. Auch die Lehrer. Keiner bedauerte sein Ausscheiden. Er war das verlorenste Geschöpf, dem Rauch je begegnet war. Hoffnungslos.
Der Mercedes hatte die Kehren hinter sich gebracht, fuhr jetzt unter dem Mausoleum in die Allee ein. Flitter von Sonnenlicht auf dem Autodach. Daneben der Sportplatz, ein kleiner Wald, der Teich ... Es war schön hier, schöner, als es die meisten von zu Hause her kannten. Die frohe Aufbruchsstimmung der Kinder konnte Rauch nicht täuschen: Die wenigsten waren glücklich, nach Hause zu kommen. Unerwünschte, Überzählige, wie er, die man hier abgestellt hatte, in der schönen Landschaft, und einmal im Monat mit Jausenpaketen versorgte. Das war bequem. Jagdwurstdosen, Essiggurken und hausgemachte Würste. Selten Süßigkeiten. Trotzdem war es eine Freiheit, die von dem Mangel, ja der Ärmlichkeit, die von der Kleidung bis zu den persönlichen Besitztümern reichte, nicht beeinträchtigt wurde. Im Vergleich mit den Stadtkindern fiel das manchmal auf. Etwas hintlerweltlerisch kam man sich dann vor, aus der Welt genommen. Hier oben spielte das keine Rolle. Eine Enklave. Und oft ein Abenteuer. Etwa die nächtliche Suche mit Fackeln und Taschenlampen im Wald nach Ausreißern. Das war im ersten Jahr gewesen. Sie hatten damals nicht mitsuchen dürfen, hatten bis Mitternacht an den Fenstern gestanden und in den Wald hinübergeschaut. Das erste Jahr: "Kartoffelklauben auf den Äckern, Gebete im Speisesaal, Schwester Andrea als Erzieherin, Sorella, wie sie genannt wurde. Eine Nonne aus Bozen. Elf war er gewesen. Zu seinem Geburtstag durfte er nach Hause gefahren. Das erste Mal seit zwei Monaten. Das neue Haus. Der neue Mann. Breit und weich um die Hüften. Ein neues Auto. Sein eigenes Zimmer. Freitag abends war er angekommen, Samstag war sein Geburtstag gewesen. Nachmittags: Er saß im Wohnzimmer auf der Eckbank. Vor sich die große Torte. Der gedeckte Tisch. Die Vorhänge zugezogen. Laute Stimmen im Bad. Irgend etwas fällt zu Boden. Ein kurzer Wortwechsel. Die Stimme des Mannes, erstickt vor Zorn. Zum ersten Mal: Das Geräusch der Schläge. Mutter, die Arme schützend vors Gesicht gehoben: "Nein, Fritz, bitte nicht!, drei-, viermal. Jämmrig. Weinerlich. Dann ein Schrei. Stille. Tonausfall. Rauch starrt auf die Tür. Langsam kommt der Ton zurück. Das Schott hebt sich. Wasser sickert in den Raum. Verhaltene Bewegungen, Waschgeräusche. Dazwischen: Unterdrücktes Schluchzen. Leise, ärgerliche Worte.
Mutters Augen sind verweint. Sie trägt ein hellgrünes Kostüm, das er noch nie an ihr gesehen hat. Grober Wollstoff, das Grün mit kleinen, weißen Punkten durchsetzt. Fasern vielleicht. Einschlüsse. Kokosraspeln. Sie macht zwei Schritte ins Zimmer. Erstarrt. Es trifft sie unvorbereitet. Das tapfere, begütigende Lächeln gefriert. Die Schultern fallen nach vorn. Der Körper sackt ein, als hätte sich irgend etwas verschoben. An den Knochen. Innen, am Gerüst. Vor dem Tisch geht sie in die Knie. Sieht ihm nicht ins Gesicht, schaut nur auf seine Hände. So bleiben sie eine Weile, bis der neue Mann seinen Kopf zur Tür hereinstreckt. Rauch sieht es nur aus den Augenwinkeln, dreht den Kopf nicht, hört wie der Mann – der neue Mann – Atem holt, ansetzt, um etwas zu sagen, aber er sagt nichts. Er stürzt an den Tisch, ruft: "Um Gottes Willen!, dann bekommt er es mit der Angst, beginnt auf Rauch zu schimpfen, dieses Kind eines Wahnsinnigen, läuft in den Vorraum, telefoniert. Das große Tortenmesser steckte noch immer in Rauchs Handrücken, die Finger aufgespreizt. Kein Blut. So bleibt er sitzen, bis die Rettung kommt. Im Krankenhaus mußte er lügen. Er wurde genäht und bekam einen Verband. Seit damals war Ruhe.
© 2010 Braumüller Verlag, Wien.