Liebe Eleonore, lieber Xaver,
Wie geht es Euch heute? Ganz ohne mich, auf Euch alleine gestellt? Seid Ihr glücklich, daß ich nicht mehr unter Euch bin? Wie Ihr wißt, habe ich lange auf diesen Augenblick gewartet. Die Jahre vergingen nur langsam, die Bilder blieben immer in mir. Schmerzhaft - auch wenn Ihr mir das nicht glaubt. Xaver: ich habe nichts, was ich Dir auf den Weg mitgeben könnte. Keine Sorge: Geld ist genug da. Daran hat es nie gemangelt. Mutter wird Dir jeden Betrag, den du wünschst, zur Verfügung stellen. Sie wird Dir helfen.
Lore: Behalte das Haus. Freu Dich über das Auto. In deinem Alter solltest du allerdings nicht mehr selber hinter dem Steuer sitzen. Gönne Dir einen Chauffeur. Einen Hausfreund. Vielleicht hast Du Glück, und er kann Klavier spielen.
Ich werde euch nicht vermissen.
Xaver: Du weißt, ich habe nie etwas von Dir erwartet. Ich wußte, Du kannst es mir nicht erfüllen.
Es klingt kitschig, ich weiß, laß es mich doch anbringen. Ich habe einen letzten Wunsch: Ich möchte, daß Du mir eine letzte Stadtrundfahrt schenkst. Einen Totenwagen wird Dir einer meiner Freunde zur Verfügung stellen. Keine Angst: Der Wagen wird unauffällig sein. Eine Liste mit den Stationen, an denen ich verweilen möchte, bekommst Du, nachdem dieser Wille verlesen wurde. Nimm Dir Zeit.
Als der Anwalt das Blatt Papier zur Seite gelegt hatte, mußte ich auflachen. Es war ein lautes, schallendes Lachen. In schlechten Momenten hätte ich mich dafür geschämt, ach, wie unpassend.
Mutter war in sich zusammengesunken, ich suchte Tränen in ihren Augen.
Eine Stadtrundfahrt mit einem Toten: Angesichts solcher Aussichten wollte sich bei mir keine Trauer einstellen.
(S. 18f.)
© 2004, Klett-Cotta, Stuttgart.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.