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Der nächste Fall war ein schwieriger. Mir gegenüber nahm ein soignierter, älterer Herr Platz. Er trug ein dunkles Sakko. Seine hagere Gestalt lief in einem schmalen Kopf aus, der von dichtem, weißem Haar gerahmt wurde. Ich wußte nur, daß der Mann vor vielen Jahren ein kleiner Spediteur und Besitzer einer Schottergrube gewesen war und in einem entlegenen Häuschen nahe des Heeresspitals wohnte. Was mir zuerst an ihm auffiel, war ein Ketchupfleck auf dem weißen Hemd. Ich setzte eine Lesebrille auf. "Was kann ich für Sie tun, Herr Kalkbrenner?" Der Mann räusperte sich. "Sie müssen schon ein bißchen lauter sprechen", sagte ich freundlich. "Es ist nämlich sehr heikel", sagte der alte Mann leise. "Ich höre." Der alte Herr sah sich mißtrauisch um. Dann beugte er den Oberkörper vor und nuschelte etwas, das ich nicht verstand. Ich nuschelte noch leiser zurück. Endlich fiel bei ihm der Groschen. "Mein Sohn, der Hubert, ist ja vor einem Jahr verunglückt", sagte er mit fester Stimme. Kalkbrenners Sohn war ein seltenes Exemplar eines durch und durch widerlichen Angebers und Betrügers gewesen, der als Mitarbeiter eines sogenannten Strukturvertriebs vor allem alleinstehende Frauen um ihr Seelenheil und ihr Erspartes gebracht hatt. Glücklicherweise war er im Vorjahr mit seinem Wagen von einem polnischen Schwerlaster erfaßt worden, dessen Bremsen vor einer Rot zeigenden Ampel versagten. Der große BMW fand danach auf der Ladefläche eines Kleintransporters Platz. "Wie ich neulich Unterlagen meines Sohnes durchsehe, finde ich das." Der Alte kramte aus einer Aktentasche einen Stoß Papiere hervor und reichte ihn mir. "Mein Sohn hat mir doch tatsächlich ein Aktienpaket hinterlassen. Ich hätte ihm das nicht zugetraut." "Niemand hätte das Ihrem Sohn zugetraut", sagte ich mit großer Einfühlsamkeit. "Ich kenn mich aber nicht aus mit der Hochfinanz", sagte Herr Kalkbrenner. Ich blätterte die Papiere durch und kam aus dem Staunen nicht heraus. Vor einem Jahr noch hätte man den alten Herrn als Millionär anreden müssen. Nun aber waren die meisten Papiere wertlos. Auch in Floridsdorf wirkte die Weltwirtschaftskrise sich verheerend aus. Großbetriebe gingen in Konkurs, überall schossen Zwei-Euro-Shops und Wettbüros aus dem Boden. Ich hatte die Tiefe der Krise von Anfang an richtig eingeschätzt, denn ich stützte mich auf die Expertise von Wenzel Schebesta, der nicht nur ein Parteigänger der aussterbenden Kommunisten war, sondern auch ein enger Freund des Ökonomiereferenten der Floridsdorfer KPÖ. Der war mehrfach auf der Krim und in Kuba zur Kur gewesen und hatte dort Krisenstudien betrieben. Seine Analyse war klar und bestürzend radikal. Die kapitalistische Weltwirtschaftskrise sei eine Folge des zeitweiligen Rückzugs des Weltkommunismus von der Staatsmacht, was wiederum damit zusammenhänge, daß es beim Übergang vom Stadium des entwickelten zum Stadium des vollkommenen Sozialismus zu Ermüdungserscheinungen der führenden Kader gekommen sei. Die Folge sei ein weitgehender Ausfall der Nachfragemacht des sozialistischen Blocks gewesen, was wiederum dem internationalen Großkapital schwer zugesetzt hätte, worauf dieses aus schierer Verzweiflung sich in finanzkapitalistische Bocksprünge geflüchtet habe, was wiederum eine Weltwirtschaftskrise nach sich gezogen habe, die bürgerliche Ökonomen ratlos machte. Einzig die Ökonomen der Floridsdorfer KP seien mit Ursache und Verlaufsform der Krise vertraut. Das sei auch der Grund, warum sie nach dem zeitweiligen Rückzug des Staatssozialismus nicht in Panik verfallen seien, sondern weiterhin in ruhiger Gelassenheit die großen Linien der Geschichte verfolgten. Wer die Geschichte auf seiner Seite weiß, kann nicht irren, sagte Schebesta. Und er hatte wie immer recht. Mir verschaffte die Wirtschaftskrise schöne Nebeneinnahmen, und auch Anita konnte sich über eine deutliche Belebung der Nachfrage freuen. (S. 51ff)
© 2010 Löcker Verlag, Wien.
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LITERATUR FINDET STATT
Eigentlich hätte der jährlich erscheinende Katalog "DIE LITERATUR der österreichischen Kunst-,...
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