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Leseprobe: Hans Eichner - "Kahn & Engelmann."

Braucht man Rat, so geht man zu einem Rabbiner. Da meiner Großmutter der Rebbe von Tarnopol nicht zur Verfügung stand, ging sie zu den Kálmans.
"Sidi!" rief Malke Kálman, die die Haustür geöffnet hatte. "Ist das schön, daß du uns wieder einmal besuchst! Komm herein und setz dich zum Ofen, du siehst ganz verfroren aus. Gyula und Sara sind auch da."
Auch Malke hatte, wie meine Urgroßmutter auf der Photographie, ein schwarzes Kattunkleid an, das bis zu den Knöcheln reichte. Hatte man Augen für dergleichen, so konnte man sehen, daß sie sich an die Vorschrift hielt und eine Perücke trug. Als Sidonie in die gute Stube trat, hatte sich der Rabbiner, ihr Gliedcousin und Nachfolger jenes Rabbiners, der ihre Ehe eingesegnet hatte, von seinem Stuhl erhoben, um sie zu begrüßen. In seinem Äußeren spiegelte sich die Spaltung, die durch die ungarische jüdische Gemeinde ging: er sympathisierte mit den Orthodoxen und trug einen Kaftan, bemühte sich aber, einen Mittelweg einzuschlagen: sein Vollbart war sorgfältig gestutzt. Gyula, sein Bruder, Schullehrer von Beruf, war Neologe. Er trug einen gewöhnlichen Straßenanzug und war glattrasiert.
"Sei willkommen", sagte Miklós Kálman mit einer gewissen Feierlichkeit. "Du bringst Segen ins Haus." Dann begannen die Frauen zu plaudern, über Gisa, die immer hübscher wurde, über Malkes Ruben, der schon den Talmud las, über die Kleineren, bis Miklós sie unterbrach: "Wie geht das Geschäft?"
"Es geht wie immer", sagte Sidonie. "Jószef macht Schuhe, und die Gojim zahlen nicht."
"Die Gojim zahlen nicht schlechter als die Juden", sagte Gyula, der ein guter ungarischer Patriot war.
"Das schon, aber sie zahlen auch nicht besser, Gott sei's geklagt", sagte Sidonie.
"Sprich dich aus, Sidonie", sagte Miklós. "Du hast etwas auf dem Herzen, du bist nicht durch den Schnee gegangen, um uns zu erzählen, daß dein Jenö Kandiszucker nascht."
"Du hast recht wie immer, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Es freut mich nicht mehr in Tabolca. Ich mach' mir Sorgen um die Kinder, ich will nicht, daß sie in einem Nest aufwachsen, wo man mir die Fenster einschlägt."
"Das ist lange her", sagte Gyula.
"Ich kann es aber nicht vergessen", sagte meine Großmutter. "Wenn ich zu den Bauern geh', sind sie froh, mich zu sehen, wer kauft sonst ihre Eier, aber ich seh' den Haß in ihren Augen, und meine Buben prügeln sich mit den Nachbarskindern."
"Es gibt überall Haß", sagte Gyula. "Das ist uns auferlegt. Aber wir leben in einem aufgeklärten Land, es wird der Tag kommen ..."
"Vielleicht", sagte meine Großmutter, "aber wann? Du weißt, wie die Zeitungen hetzen. Ich will nicht, daß meine Kinder mit dem Haß aufwachsen. Und was soll hier werden aus ihnen? Sollen die Buben bei meinem Mann in die Lehre gehn und ihr Leben lang Stiefel flicken? Zum Hausieren sind sie mir zu gut."
"Du übertreibst", sagte Gyula. "Dein Vater ist in einem Dorf aufgewachsen und ist ein reicher Mann geworden."
"Ich will nicht, daß die Kinder werden wie mein Vater", sagte Sidonie, "aber sie sollen verstehen lernen, wie es in der Welt zugeht, sie sollen mir nicht verbauern in diesem Nest."
"Bin ich verbauert?" sagte Gyula. "Ich lebe seit zwanzig Jahren in Tapolca. Und der Miklós? Er ist überall als ein gelehrter Mann bekannt."
"Der Jenö ist ein aufgewecktes Kind", sagte Miklós, "wenn ihr gute Juden wärt, du und der Jószef, könnte ich ihn auf die Jeschiwa vorbereiten wie meinen Ruben."
"Das ist nicht so leicht", sagte Gyula. "Wenn der Bub die richtige Ausbildung haben soll, muß er zur Jerschiwa nach Preßburg, und von woher soll das Geld dazu kommen? Der Róth gibt nichts, und das Schuhmachen trägt's nicht."
"Der Miklós hat auch nicht in Preßburg studiert und ist doch ein berühmter Mann geworden", sagte Malke stolz. "Er hat erst jetzt wieder einen Aufsatz in A Magyar Szinagóga veröffentlicht."
"Dein Ruben hat den ganzen Tag die Nase im Talmud", sagte meine Großmutter, "aber nicht der Jenö. Und es geht ja nicht nur um ihn."
"Was hast du also im Sinn?"
"Ich weiß nicht", sagte meine Großmutter, nicht völlig aufrichtig. "Ich wollte mir bei euch Rat holen."
"Wenn es euch hier wirklich nicht mehr gefällt", sagte Miklós, "geht nach Wien."

(S. 28ff.)

© 2000, Picus Verlag, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

 

 

 

 

 

 

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