Ich würde gern über Anatol nachdenken, aber der Mann hat scheinbar einen Narren an mir gefressen und nimmt mich mit seinen wirren Kurzgeschichten in Beschlag. Mir ist, als ob ich schon lange kein Tageslicht mehr gesehen hätte. Immer nur kurz hinaus und Trottoirs entlang bis zu Espresso-Absteigen, schluckweise die Beine durchbluten mit Koffein, dann wieder zurück in schallende Hallen, Gitterstufen hinauf in einen Waggon der mir zwischen vorne und hinten ein vorübergehendes Wohnzimmer entwirft in glatten Strichen, zwei Sitzbänke, Gepäcknetz, ausziehbares Jausentablett, Leselampen, Bordlektüre. Schon lange war ich nicht mehr irgendwo, das dauernde Fahren lullt mich ein, meine Wohnung hängt als gestrandete Mücke im rechten Augenlid, das sich entzündet an der Sehnsucht nach den eigenen vier Wänden. – Nur nicht lamentieren. Nur kein falsches Ressentiment heraufbeschwören, oder doch, weil ich schon gerne wieder einmal baden würde nach den dürftigen Katzenwäschen im Minibecken vom Klo. Die Zeit hat sich aus meinem Empfinden ausgeklinkt, und obwohl die draußen immer wieder hin- und hergeschobene Landschaft mir zwar Morgen, Mittag, Abend und Nacht wie an einer Schnur aufgefädelt hintereinanderreiht, finde ich darin keine Anhaltspunkte für das Vergehen der Stunden. Es könnte sein, daß ich schon jahrelang so schaukelnd unterwegs bin, meine Kreuzigung verblaßt unter der Müdigkeit und ich weiß nicht mehr, ob sie mir überhaupt jemals passiert ist. Ob überhaupt das ganze letzte Geschehen nicht eine Ausgeburt meines Hirns ist, das sich gern in gereizten Zuständen mit Phantasien abhilft, um mir die Nerven restlos zu ruinieren.
(S 64/65)
© 2011, Klever Verlag, Wien.