Sie will sich nicht beklagen. An guten Tagen ist Madame sehr großzügig und sehr nett, sie hat eine soziale Ader, ist Ligia überzeugt, sonst würde sie nicht so viele Einladungen geben. Außerdem geht Madame viel auf Reisen. „Ich werde nach Atlanta fahren müssen“, verkündete sie erst neulich, als Ligia gerade das gesunde Frühstück auftrug. „Man braucht nur auf den Markt zu gehen, dort sind alle gleich! Dort sind alle vertreten, ein buntes Gemisch!“ Ihre Hände flatterten los, forderten Ligias Zustimmung: „Welche Speisen oder Gewürze man auch sucht, man findet sie. Ach Ligia, ich werde nach Atlanta reisen müssen, um die Seele dieser Stadt zu suchen.“ Sie senkte ihre Stimme und machte eine kunstvolle Pause, saß kerzengerade in ihrem Bett: „Was hört man, Ligia, was fühlt man? Wir sind nichts als eine Kopie, ein Gefäß voller Erinnerungen, zu Hause und doch fremd.“ Leidend blickte sie zu ihrer lieben, treuen Haushälterin und seufzte. Welche Last sie mit sich herumtrug, und Ligia hörte es wie ein inneres Krachen, ein Schluchzen, wie ein Echo des eben Gesagten. Ein Schauer kroch ihr über den Rücken, so und nicht anders hätte sie es auch gerne gesagt, so und nicht anders hätte sie es auch gerne erlebt.
Sie ist froh, bei Madame eine Unterkunft gefunden zu haben, gleichsam eine Dauerstelle, ein sehr geräumiges Zimmer, der Keller ist tipptopp ausgebaut, mit einer modernen Alarmanlage und einem Klingelton, der Ligia nicht selten zu nächtlichen Exkursionen ruft. Für eine zitternde Madame kocht sie Tee mit Honig, setzt sich zu ihr auf den Bettrand und wartet, bis sie wieder eingeschlafen ist. Ihr Untergeschoß hat zwar keine Kochgelegenheit. Aber wer braucht die schon? Die Küche oben steht ihr praktisch allein zur Verfügung. Wirklich wichtig ist ihr, dass sie Tür an Tür mit dem eleganten Badezimmer schläft. In Untersberger Marmor verfliest und rosafarben schimmernd, bezeugt es bis in den letzten Winkel Madames gehobenen Stil.
(S. 12/13)
© 2011, Edition Tandem, Salzburg.