„Guten Tag, Sie sprechen mit Jean Améry, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Morgen.“
Wie schaffte sie es bloß, immer an seinen Platz vermittelt zu werden? Frank glaubte nicht mehr an seine These mit dem Mystery Call. Nie würde man ihn mit derartiger Intensität überwachen. Wer aber trieb da ihr böses Spiel mit ihm?
„Wer sind Sie?“
„Nenn mich, wie du willst, und lass uns diskutieren.“
„Worüber?“
„Über die Verhältnisse und deine Rolle, deine Ziele und Jean Améry.“
Frank hatte den Wikipedia-Eintrag über Jean Améry aufmerksam studiert und in „Jenseits von Schuld und Sühne“ hineingelesen. Es wurde ihm dabei schnell klar, was die Frau am Telefon meinte, als sie sein Pseudonym als anmaßend empfand.
„Wie heißen Sie?“„Nenn mich, wie du willst“, wiederholte sie, im exakt gleichen Tonfall und ohne den leisesten Anfall von Ungeduld, „es spielt keine Rolle, wir werden uns nie begegnen.“
Die Frau zog Frank voll in ihren Bann, nie zuvor war jemand ihm gegenüber so kühl und gleichzeitig so aufmerksam gewesen. Sie sprach akzentfrei deutsch, aber nicht geschult; er musste sich ein Bild von ihr machen, hatte kaum Anhaltspunkte. Frank entschied sich für eine Art Grace Jones: androgyn, sehr sexy. Nicht so drahtig, etwas molliger. Und keine fletschenden Zähne. Ein wenig vielleicht auch von Jutta Ditfurth, nur ruhiger, viel ruhiger. Frank nannte sie „Calla“, ein Kunstwort für die weibliche Anruferin, er würde sie nie direkt so ansprechen, hatte Angst vor ihrem Hohne. Er, für sich, war sehr zufrieden mit der Namenswahl.
„Ich weiß, dass Jean Améry ein bedeutungsvollerer Mann war, als ich es je sein werde.“ Frank wollte das Thema vom Tisch haben und weder als Hochstapler gelten, noch sich weiter rechtfertigen müssen.
„Niemand ist per se bedeutend oder bedeutungslos. Jean Améry hat sich nie auf seine Opferrolle zurückgezogen, das zeichnete ihn aus. Kennst du ,Schuld und Sühne‘?“ Bisher war Calla eine Kunstfigur, die nur im fernmündlichen Medium existierte. Beobachtete ihn diese Frau umfassend? Verdammt, wer war diese Frau?
„Nein“, log er, und versuchte eine Reaktion zu provozieren. Wie zu erwarten, blieb diese aus.
„Lies nach auf Seite 142, letzter Absatz. Ich melde mich morgen wieder.“
Frank meldete sich ab.
(S. 33–34)
© 2011 Milena Verlag, Wien.