Ich stamme aus einer Gegend, die es sich rechtlich schützen hat lassen, der geografische Mittelpunkt Österreichs zu sein, und da man Österreich immer als im Herzen Europas liegend beschrieben hat ("Liegst dem Erdteil du inmitten, einem starken Herzen gleich", heißt es in unserer Bundeshymne), setzte sich der Gedanke in meinem und nicht nur in meinem Kopf fest, dass das Ausseerland auch der Mittelpunkt Europas sei. Ein Mittelpunkt, der mir nur recht sein konnte, schloss er doch – so gesehen – weite Teile des ehemaligen Ostblocks, der Türkei, Nordafrikas ein und nicht aus. (Neueren Berechnungen zufolge soll Litauen, nämlich die Gegend um Riga, der tatsächliche Mittelpunkt Europas sein; man unterschätzt gemeinhin die Langgestrecktheit Skandinaviens.) Dennoch stelle ich mir noch immer jenes größere Europa gerne als eines vor, das seine Wurzeln nicht gekappt hat und dem das Mittelmeer nicht Grenze, sondern Brücke ist. ("Europa, das ich meine", S. 51)
Die Spuren dieser Art von Gemeinschaftsleben finden sich auch heute noch bei den anatolischen Aleviten, und es zeigt sich, dass ihre jahrhundertelang von der sunnitischen Mehrheit verachteten und verleumdeten 'ketzerischen Gewohnheiten' sie besser auf eine moderne Gesellschaft vorbereitet haben als ihre orthodoxen Landsleute, die zur Zeit eher eine Gegenbewegung vollziehen.
Die anatolischen Aleviten galten lange Zeit als ausschweifend, weil sie ihre Frauen an allen Zusammenkünften und Feiern teilnehmen ließen. Man sagte ihnen Häresie nach, da sie es ablehnten, Moscheen zu bauen (auch heute genügen ihnen schlichte Versammlungsräume) und weil sie die Pilgerfahrt nach Mekka nicht vollzogen und behaupteten, die Kaaba könne man nur im eigenen Herzen finden. ("Ich fand meinen Mond auf Erden, was soll ich im Himmel", S. 80)
© 2008, Literaturverlag Droschl, Graz-Wien.