Ende einer Laufbahn
Lokomotivführer wollte ich werden, sonst nichts.
Ich gehörte noch zu einer Generation, die sich erreichbare Ziele steckte. Feuerwehrmann, Schornsteinfeger, Polizist. Und mein größter Wunsch war: Lokomotivführer sein. Schon als kleiner Junge war ich von Bahnhöfen fasziniert. Mein Vater nahm mich dorthin mit, und wir sahen den Zügen nach. Natürlich hatte ich auch eine kleine Modelleisenbahn. Sie war aus Plastik und nicht sehr wertvoll. Ich legte die Schienen im ganzen Zimmer aus und träumte davon, kleine Tunnel durch die Wände zu brechen, um meine Bahn durch die ganze Wohnung fahren zu lassen, wie man das in Filmen oft sah. Eines Tages, als meine Mutter die Wäsche ins Zimmer brachte, zertrat sie einen kleinen Bahnübergang. Die Schienen waren irreparabel verbogen, die Schranken geknickt. Ich weinte bis in die Nacht.
An meinem Geburtstag hatten meine Großeltern Geld zusammengelegt und schenkten mir eine Märklin-Diesellok: die Kleinlokomotive Baureihe Köf II der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft aus dem Jahr 1938 mit offenem Führerstand. Ein wahres Schmuckstück. Ich allerdings hätte lieber neue Schienen gehabt, aber so war nun der Boden in meinem Zimmer wieder frei. Auf der Leiste über meinem Bett stand eine winzige Lok, die die vor dem Einschlafen schnaubend über die Polster fahren ließ und mir dabei je nach Bettwäsche vorstellte, mit der Transsibirischen Eisenbahn die unendliche russische Schneelandschaft zu durchqueren oder mit dem Orientexpress durch die bewaldeten Gebirge der Karpaten zu rattern. In jener Zeit las ich Jules Verne und Karl May und träumte mich in den wilden Westen. In der Schule hatten wir gelernt, dass zwei parallele Linien sich in der Unendlichkeit treffen, und so sah ich mich in den endlosen Weiten der nordamerikanischen Prärie Schienen verlegen, auf denen ich irgendwann in die Ewigkeit brausen würde.
(S 89f)
© 2012 Edition Laurin, Innsbruck