Wenn Martina hungrig war, mußte sie etwas zu essen haben, und sie wählte zumeist den Weg, der ohne Umstände zum Ziel führte: Sie stahl, was sie brauchte. Dies wurde immer schwieriger, denn die anderen hatten herausgefunden, daß mehr Fleisch verschwand, als sie gemeinsam verbrauchten, und daß Martina wohlgenährt aussah. Die Verstecke wurden immer besser und immer unzugänglicher angelegt. Martina mußte manchmal tagelang suchen, bis sie mit der sicheren Witterung eines Tieres darauf stieß.
Dieser Zustand war zwar anstrengend, doch brachte er auch Vorteile mit sich. Da es zwischen ihr und den anderen allmählich zu einem regelrechten Kleinkrieg gekommen war, brauchte sie auf niemand mehr Rücksicht zu nehmen. Auch Gewissensbisse hatte sie nicht mehr. Aus Diebstahl war offener Raub geworden.
Das Stück Räucherfleisch, auf das sie es abgesehen hatte, entdeckte sie in einem Seitengang der Höhle, dicht unterhalb der Deckenwölbung. Es war in eine Ausbuchtung hineingeschoben wie in eine offene Lade und mit Lattichblättern gegen die Nässe geschützt. Martina wußte, daß es für das Nachtmahl bestimmt war, doch bis zum Abend war es noch lang. Und durch fünf geteilt, ergab es für den einzelnen wenig genug. Besser war, es jetzt und allein zu haben.
Sie reckte sich und preßte sich gegen den Felsen, der von schleimiger Nässe überzogen war und sich mit nadelscharfen Auswüchsen in die Haut bohrte. Ihre Finger fanden Halt in einer Mulde, und ihre Knie ertasteten winzige Vorsprünge. Sie zog sich empor und riß das Fleisch mit einem Ruck zur Erde. Ihre Handflächen waren aufgeschunden, und ihre Knie bluteten, aber die Beute gehörte ihr. Sie bückte sich danach und schob sie unter ihren Arm. Einen Augenblick hatte sie gemeint, Stimmen zu hören. Rasch löschte sie den Span aus, der ihr Licht gegeben hatte, und bemühte sich, flach und leise zu atmen. Nach einer Weile kroch sie auf Händen und Füßen der Helligkeit zu und spähte in die schwach erleuchtete Wohnhöhle. Dort war niemand zu sehen.
Da tat sie zwei, drei große Schritte und war draußen im Freien, wo ihr keiner mehr die Beute abjagen konnte. Ein paar verstreute Lattichblätter würden verraten, was sie getan hatte, doch kümmerte sie sich nicht darum. Auch dies war ein Vorteil des offenen Krieges: Er enthob sie der Mühe, die Spuren verübter Untaten zu tilgen.
Sie floh über die Grashänge zum See hinunter, bis sie sich außer Gefahr wußte. Als sie in den Gürtel der Krüppelkiefern eintauchte, sah sie noch einmal um sich und ging langsamer weiter. Ihre Hände befingerten das Stück Fleisch, das schon körperwarm war und sich wunderbar straff anfühlte. Jetzt, da ihr die Sättigung sicher war, machte es ihr Vergnügen, sie noch eine Weile zu verzögern.
Es war Frühsommer und der Almgrund von tiefgelben Aurikeln übersät. Ein paar Wochen noch, dann welkten sie wieder, dann hörte das Leben wieder auf, ein klein wenig schön zu sein.
Vom Seeufer zogen sich Matten weit hinauf an die Felsgrenze und wurden dort wie Brandung zurückgeworfen. Das Gebirge war ein starrer Ring, der seit Jahrtausenden hielt und sich an keiner Stelle hatte sprengen lassen.
Über dem Felsen, den sie den Letzten Krieger nannten, ging groß und glühend die Sonne unter. Dabei übergoss sich der Himmel mit einem schrecklichen Rot. Es schien stofflich zu sein, dicht und stickig wie Brandrauch, und erweckte unwillkürlich Angst, es atmen zu müssen. Martina wußte gut, seit welchen Tagen es diese Sonnenuntergänge gab, und immer kam mit diesem Rot die Erinnerung zurück, wie sehr sie sich auch mühte, davon frei zu werden.
Mit dem Westwind jagten Wolken über die Grate und bäumten sich steil auf wie eine Herde, die vor dem Abgrund scheut. Am Kesselgrund war kein Wind zu spüren, darum wirkten die Wolken wie etwas Lebendiges, das sich aus eigener Kraft bewegt, das Angst hat und sich anstemmt und weitergewälzt wird, über den Rand der Felsen hinaus. In solchen Augenblicken war es gut, etwas in den Händen zu haben. Wenn es auch nur das Fleisch eines toten Tieres war, das Martina umklammerte, so bannte es doch die Geister dieser roten Stunde und hielt sie von der Erde ab.
(S. 5-7)
© 2012 Residenz Verlag, St. Pölten - Salzburg.