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Rudolf Kraus: mein haiku schmeckt gut.

japanische miniaturen.
Mödling/Maria Enzersdorf: Edition Roesner,  2011.
96 Seiten; broschiert; Euro 14,80.
ISBN 978-3-902300-59-1.

Link zur Leseprobe

Heute schon einen fernöstlichen Dreizeiler verspeist? Nein? Dann mag es Zeit sein für die Lektüre eines fröhlichen Ironikers aus Niederösterreich, des 1961 in Wiener Neustadt geborenen Lyrikers Rudolf Kraus.

Puristen unter den Kennern und Liebhabern japanischer Miniaturen werden an den mundgerecht servierten literarischen Häppchen schnuppern, vielleicht noch zögernd hineinbeißen – nur schlucken werden sie das nicht, was ihnen der Autor da serviert. Zu wenig entsprechen diese Verbalkulinarien dem, was sie erwarten: form- und inhaltsstrenge Naturgedichte, tausendfach genossene Dutzendware aus der Fünf-Sieben-Fünf-Retorte, abgeschmeckt mit einem Jahreszeitenwort, einem Hauch Esoterik und demjenigen Gaumen angepasst, der keine wirkliche Geschmacksveränderung mehr sucht.
Kraus’ Haiku sind anders. Zunächst einmal sind sie mehrheitlich eigentlich keine Haiku, sondern Senryu. Die Form derselben ist vordergründig die gleiche. Ihr Inhalt aber kann alles Mögliche zum Thema haben, und das kommt der frei schweifenden Phantasie des Autors dann doch schon eher entgegen. Rudolf Kraus bricht die äußere Form des Dreizeilers augenzwinkernd gerade dadurch auf, dass er sie konsequent beachtet, wie es heute kaum noch ein „ernsthafter“ Haijin, also ein Verfasser von Haiku, tut. Er füllt diese Form jedoch vorrangig mit Themen, die so gar nichts mit der naturverbundenen oder dem augenblicklichen Erleben huldigenden Tradition zu tun haben:

nur abstand halten
etwas verhalten bei der
menge an falten
(S. 66)

Das aber macht Räume auf für eigene Lesarten und das innere Weiterdichten, was durchaus wieder im Sinne der ursprünglichen japanischen Kurzform ist. Und der wörtlichen Übersetzung des Begriffs Haiku (zu deutsch: lustiger Vers) werden auch viele der Kraus’schen Miniaturen gerecht:

Wachauer Marillenschnapshaiku

hab feuer im arsch
sieben schnäpse als wahre
brandbeschleuniger
(S.77)

oder aber auch:

viertes bier vor mir
jetzt sieben silben später
kommt bier nummer fünf
(S.68)

Man kann sich vorstellen, wie solche Sprachgebilde entstanden sein mögen. Hier kombiniert jemand die heimatliche Beisl-Tradition mit dem Kulturgut eines anderen Erdteils. Darf denn so die literarische Globalisierung aussehen? Warum nicht! Es bleibt ja nicht bei solchen (freilich nur vordergründig) belanglos wirkenden Gedichten. Kraus schwingt sich mitunter ganz unvermittelt auch zu sehr ernsthaften Zeilen auf:

das leben wie blei
ein tag wie der andere
hinter dir der tod
(S.34)

oder:

wen kümmert das schon?
funkenflug im lungenzug
schon zentralfriedhof
(S.49)

Gern reflektiert Kraus auch die formalen Aspekte des Haiku, vielleicht auch aufgrund der Verzweiflung, die den mitteleuropäischen Autor angesichts der Tatsache packen kann, dass es im Deutschen nicht annähernd so viele Homonyme, Homographe und Homophone gibt wie im Japanischen, und es also unendlich viel schwerer ist, in unserer Sprache ein wirklich großartiges Haiku zu erschaffen. Die „Kapitulation“ vor dieser Gegebenheit klingt dann beispielsweise so:

eins zwei drei vier fünf
in zeile zwei steht sieben
eins zwei drei vier fünf
(S.10)

Post-Dada-Fluxus-Bezüge verarbeitet der niederösterreichische Lyriker ebenso wie anglizistische Einsprengsel und ruft damit die gesamte Bandbreite zeitgenössischen Sprechens auf. Das alles geschieht in scheinbar unmotivierter Folge, die den Leser verwirren, verstören und vielleicht auch verärgern mag. Doch wo steht geschrieben, dass man mit Haiku nicht auch provozieren kann?

ich spucke tinte
in dein dämliches gesicht
erbärmlicher wicht
(S. 16)

Das kann man für sich genommen auch als Publikumsbeschimpfung verstehen.

Die etwas lieblose Darreichungsform der japanischen Dreizeilersammlung auf einem knochenbleichen Papier, das eher für eine technische Betriebsanleitung geeignet gewesen wäre, scheint sich ebenso gegen die optisch-haptische Rezeption zu sperren wie der unkonventionelle Gehalt der Haiku. Irgendwie ist das dann ja auch wieder konsequent.
Mag seine Interpretation der japanischen Gedichttradition letzten Endes auch Geschmackssache sein – aus den Versen Rudolf Kraus’ spricht das unverbraucht-freche Selbstbewusstsein eines Autors, der es wagt, einer beliebten, inzwischen weltweit verbreiteten lyrischen Form seine ganz individuelle Würze zu verabreichen. Itadakimasu – guten Appetit!


Marcus Neuert
2. Juli 2012


Originalbeitrag

Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.


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