"Ich habe wohl nie begriffen, wie das funktioniert. Leben", sagte er.
Wie früh am Tag die Nacht ihre Narben auswarf, dachte sie.
Es löste sich vom Feuer und nahm seinen Mantel vom Stuhl. Er war immer noch feucht. Diese Kälte, dachte er und hängte den Mantel an den Haken für das Feuergeschirr. Er strich über die kahlen Stellen des ausgedünnten Lodens. Von wie vielen Männern war er abgetragen worden? Vielleicht steckte er selbst in einer so grauen, matten Haut, durch die Jahre getragen von verschiedenen Männern, die er nie kennengelernt hatte. Sie hatten sich seiner bedient, aber keinen Eindruck hinterlassen. Da war nichts, was er deuten hätte können. Nicht die Spur einer Inschrift.
"Wir haben beide den Faden verloren", sagte sie und ging wieder zur Leinwand, klebte ein neues Blatt auf.
"Es war einmal", sagte er zuerst zu seinem Mantel. Dann drehte er sich um.
Seine Augen stierten Löcher in ihr Leben. Wie beständig doch dieses Warten auf ihn sich wiederholte.
Sie nahm die Kohle und begann zu skizzieren. Sie würde ihn aus der Erinnerung zeichnen. Aus dem Herzen. Aus was auch immer.
"Ich liebe Sie", sagte er in den Raum.
Sie hatte sich nicht verhört.
Wie lange hatte sie darauf gewartet? Und jetzt hängte er ihr diese Worte in den Rücken wie einen viel zu schweren Rucksack. Sie skizzierte ein Rechteck. Kappte ihm die Ecken. Reduzierte seinen Kopf auf eckige Grundformen. Quadrate entstanden. Dreiecke. Es war einmal. Ich liebe Sie. Wenn sie das Schweigen abzog, blieben diese beiden Sätze. Sie skizzierte weiter. Setzte Strich um Strich. Das Kratzen der Kohle hing im Raum, als wolle es die drei Worte bürsten. Sie zog die Linie, auf der sie seine Augen tanzen sehen wollte. Sie war verschwommen wie ihre Gedanken. So flüchtig wie Mitternachtsträume, aus denen ein Mann eine Frau unverhofft weckt. Sie wischte die Tränen aus ihren Augen.
"Es ist kein Spiel mehr?" fragte sie.
"Nein", sagte er und zog den Stuhl näher ans Feuer. Das Tuch rutschte. Er klemmte es unter den Achseln fest, gleichzeitig schüttelte er den Kopf. Warum sich jetzt noch bedeckt halten? Er schob die Glasscheibe am Kamin hoch und legte zwei Scheite nach. Jetzt wollte auch er es brennen sehen.
"Schon damals hast du geglaubt, ich hätte dich verlassen", sagte er und zog die Scheibe nach unten.
Sie zog die Linie, auf der sie seinen Mund haben wollte.
Er setzte sich in den Stuhl, streckte die Füße vor und zog sie sofort wieder zurück. Zu kalt waren die Granitplatten, die Luft, die dort unten durchzog, um das Feuer am Leben zu halten.
"Ich habe dich nicht verlassen", sagte er im Aufstehen. Er zog den Stuhl näher ans Feuer.
"Du bist aber gegangen."
Er setzte sich erneut und legte seine Füße auf die verbliebene Holzbeige. Auf diese toten Birken. Er war gewillt, sie für den Rest der Nacht zu neuem Leben zu erwecken.
Sie zog erneut zwei Längsstriche. Zwei kurze Querstriche. Das Ohr. Sie hatte ihm zuhören wollen. Wie ein Dieb, dachte sie jetzt. Die Koteletten. Sie drehte sich zu ihm. Sie hatte ohne hinzusehen gewusst, dass sie links und rechts nicht gleich lang waren. Die Luft zwischen Lehne und rundem Rücken. Seine Ellbogen schwer auf den Knien. Der Kopf gesenkt. Ich könnte ihm die Schuld geben, dachte sie, und ich hätte nicht aber sagen sollen. Sein Kauern tat ihr weh. Sie biss sich auf die Zunge und zog die Linie für seinen Mund eine Spur tiefer. Auch die für das Kinn, das wirkte entspannter. So konnten seine Lippen sich besser entfalten. Das Pralle am Rand eines Traumes. Und einen Moment lang wusste sie mehr über ihn, als er je selbst über sich wissen würde.
(S. 109 - 111)
© 2012 Limbus Verlag, Innsbruck.