Nicht zu vergessen seine Perfektion, wenn er mit Marie & den Kindern im japanischen Kleinwagen zu irgendeinem Ferienziel in Westösterreich oder Norditalien unterwegs gewesen war, Marie am Steuer, die Kinder auf dem Rücksitz, ständig quengelnd, am Naschen & mit ihren Gameboys schimpfend, wenn sie beim Spielen zum xten Mal eins ihrer „Leben“ verloren & dafür Maries Fahrstil die Schuld gegeben hatten. Leo hatte Marie nicht nur geografisch navigiert, sondern auch Äpfel in mundgerechte Stücke tranchiert, Bananen geschält, Wurstsemmeln & Mannerschnitten verteilt, Fruchtsäfte ausgeschenkt, dazu Erfrischungstücher, Musikkassetten gewechselt, Abfälle gesammelt, Geschichten vorgelesen, für die Kinder aus den sogenannten Pixi-Büchern, für Marie aus der Klatschkolumne der Tageszeitung, hatte in seiner Funktion als Reiseleiter auf die Besonderheiten der Gegend hingewiesen, insbesondere auf die Baustile der Dorfkirchen & die spezifischen Gegebenheiten der Natur, hatte unisono mit Marie störende andere Verkehrsteilnehmer (sic!), die entweder zu langsam oder zu schnell unterwegs gewesen waren, obszön verunglimpft, vornehmlich die in den PS-stärkeren & sowohl in Anschaffung als auch Betrieb teureren Autos, stundenlang, bis zur Sinnfrage war das so gelaufen, um dann final den Tourismus zu verurteilen, die Autoindustrie zu verdammen, die multinationalen Spritkonzerne zu verfluchen & sogar die Familie als kleinste sozialbiologische Zelle in Frage zu stellen. An dieser Stelle hatte ihn Marie für gewöhnlich gefragt, wann er denn endlich seinen Führerschein machen wolle. Ihr ginge das Ganze nämlich mindestens ebenso auf den Zeiger, wie sie zu sagen pflegte, auf den Zeiger oder auf den Keks oder die Nerven, insbesondere er, Leo, der immer nur redete statt zu handeln. Das war alles zwischen Leos zweiter & dritter Auszeit passiert & ging ihm jetzt durch den Kopf, der sich auf diesem mitleidlosen Schlaglöcherritt gerade wie zentrifugiert anfühlte. Leo hatte kaum Zeit wahrzunehmen, wie der Wald lichter wurde, am Straßenrand Reste einer untergegangenen Zivilisation auftauchten, Ruinen von Haltestellenhäuschen für Busse, die hier einmal verkehrt waren, darauf gerade noch lesbare, längst nicht mehr aktuelle Plakate affichiert, zerfranst & vom Wetter gebleicht, „Bluna“, „Adventmarkt“, „Nein zu Zwentendorf“ & „Rettet die Au!“, ehemalige Andenkenläden & Gemischtwarenhandlungen mit herunter gelassenen Rollläden, die rostig & zerbeult waren, Architekturskelette von Aussichtslokalen, die irgendwann in der Bluna- , Adventmarkt-, Nein-zu-Zwentendorf- & Rettet-die-Au-Zeit einmal floriert hatten, Häuserfronten mit leeren Fenster- & Türöffnungen, von denen sich Leo wie aus Totenkopfaugen angestarrt fühlte, die Fassaden abbröckelnd, feuchtes Ziegelmauerwerk, das unter dem abgeplatzten Putz hervorlugte, die Dächer eingebrochen, die Garagentore offen stehend wie staunende Münder, in den von Unkraut meterhoch überwucherten Vorgärten von Sturm & Blitz zersplitterte Obstbäume. Mit den repräsentativen südholländischen Ziergärtchen in keinster Weise vergleichbar...
Leo hatte sich das Finale seiner Anreise ganz anders erhofft. Nicht dass er erwartet hatte, man würde ihm einen roten Teppich ausrollen & ihm huldigen, seinetwegen die Hecken schneiden & den Rasen mähen, Zweckpessimisten schließen so etwas von vornherein aus, aber dermaßen form- & lieblos empfangen bzw. eben nicht empfangen zu werden an seiner künftigen literarischen Wirkungsstätte, von niemandem registriert bzw. wahrgenommen zu werden, damit hatte er eigentlich nicht gerechnet. Wie denn auch, musste er sich eingestehen, hier leben höchstens Eichhörnchen & allerlei Vögel. Die Menschen, vom Griesgram Adrian abgesehen, waren hier längst ausgestorben.
Sie rumpelten von Kehre zu Kehre bergab, an einer davon ein von Grünzeug zugewachsener kleiner Parkplatz vor einer exponierten Aussichtswarte, die von einer zerfallenen, basteiähnlichen Mauerbrüstung umgeben war, in ihrem Zentrum die Reste eines Münzfernrohres. Wie ein Maschinengewehrnest in irgendwelchen als Antikriegsfilme getarnten Kriegsfilmen, kam Leo vor, & er erinnerte sich an den Prospekt des Fremdenverkehrsvereins Mitteraach, der den Stipendiumsunterlagen beigelegt war. Das Foto mit der Bildunterschrift „Blick von der Aussichtswarte Aachblick auf die Altarme der Aach im Bereich der Fährstation Finstern mit den von den Römern errichteten Brückenpfeilern“ hatte ganz anders ausgesehen als jetzt gerade, als in Wirklichkeit, unretuschiert. Auf dem Panoramafoto war ein riesiges Biotop mit weit verzweigten toten Flussarmen zu sehen gewesen, dazwischen Auwald & reichlich Gebüsch auf kleinen Inselchen, ein Paradies für Biber, Nutria, Schildkröten, allerlei Amphibien & Libellen, in einer gedachten geodätischen Linie eine Reihe steinerner Stumpen, etwa eineinhalb Meter aus dem Aachwasser ragend, die antiken Brückenpfeiler, auf dem Foto knapp 3mm hoch, altrömisch bzw.1 1/2 Jahrtausende später von den NS-Wehrmachtspionieren nachgebessert, Leo war sich da nicht sicher gewesen, auf jeden Fall aber ideal für FKK, Grillgelage, Sauf-, Dope- & Bumsorgien, dachte Leo, eine nachkolorierte Farbpalette in allen erdenklichen Blau- & Grüntönen, am allerblauesten der Himmel oberhalb dieses einstigen Gartens Eden, am Horizont das breite azurne Band der Aach im Sonnenglast, der das jenseitige Ufer unsichtbar machte. Am linken Bildrand, etwas unscharf gehalten, die breite Staumauer des Kraftwerks Oberaach, rund 90 km von Finstern aachaufwärts.
In ruckelnder, zerhackter Bilderfolge nahm Leo stattdessen ausgetrocknetes Schwemmland wahr, mit zahllosen Baumleichen, leeren Wasserläufen, dazwischen ein paar Tümpel & an Stelle der netzartigen Äderung der Aach-Altarme eine Art Schotterwüste mit Sandbänken, der Horizont nebelverhangen & undurchsichtig eingetrübt, die steinernen Poller mehr als doppelt so hoch & wie Skelettfiguren aus dem Boden ragend. Die einzige Übereinstimmung der Wirklichkeit mit dem Prospektfoto war die Unsichtbarkeit des anderen Ufers. Man konnte vom Diesseits aus das Jenseits, das ca. 300 n. Chr. von den Legionären der Legio C Gemina Pia Fiedlia, dem späteren Hausregiment von Vindobona, offiziell noch terra nova, später schließlich trans terram genannt worden war & seit dem Mittelalter bei den Einheimischen bajuwarisiert Trams heißt, nicht wahrnehmen.
(S. 72-76)
© 2012 Kitab Verlag, Klagenfurt.