Amalia knurrte, zupfte sich ihr Kleid zurecht und ging in den Vorraum hinaus. Ich hörte meine Schwester hereinkommen und versuchte meine Gedanken zu ordnen, um für alle Angriffe gewappnet zu sein. Judith tänzelte mit der ihr angeborenen Heiterkeit in mein Zimmer.
„Entschuldige Mucki, ich bin noch etwas aufgehalten worden.“
„Kein Problem, die Zeit existiert ohnehin nicht wirklich.“
„Wie geht es dir, kannst du schon allein aufs Klo gehen?“
„Komm mir nicht zu nahe, du bringst sicher Bakterien mit.“
„Die Bakterien schwirren überall herum, mein Lieber.“
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Wo kann ich das abstellen?“
In Ermangelung einer anderen Sitzgelegenheit ließ sich Judith in den Rollstuhl fallen.
„Ich habe dir Vitaminsäfte und Magnesiumtabletten mitgebracht, und ein paar Krimis, falls dir langweilig wird.“
Sie stellte den Nylonsack provokant auf meinen Bauch, und mir blieb nichts anderes übrig, als die Geschenke herauszuholen.
„So viele Vitamine“, rief ich angeekelt aus, „da muss man ja krank davon werden!“
„Du brauchst jetzt Vitamine, vor allem in der Übergangszeit. Mein Gott, wie es hier riecht, kann ich kurz das Fenster öffnen, hier stinkt es ja wie in einem Obdachlosenheim.“
Während sie sich über mich beugte, roch ich ihr süßliches Parfum, das nach Neroli duftete. Mir war intensiver Parfumgeruch schon immer zuwider gewesen, weswegen ich jetzt den Atem anhielt. Sie stützte sich auf meinem Bauch ab und versuchte das Fenster zu öffnen.
„Nein, lass das Fenster zu, ich habe keine Lust, mich auch noch zu erkälten.“
„Nur kurz, Mucki, ganz kurz!“
„Bist du dir sicher, dass die Luft nicht noch radioaktiv verseucht ist?“
„Sie haben in den Nachrichten nichts dergleichen durchgesagt. Beruhige dich!“
„Du glaubst ja alles, was sie in den Nachrichten sagen! Woher weißt du, dass das überhaupt stimmt?“
Sie hatte schon das Fenster geöffnet, und ich spürte einen eiskalten Luftzug hereinströmen.
„Mach sofort das Fenster zu, es zieht, da holt man sich ja den Tod!“
„Zwei Minuten, Mucki!“
„Und was ist das? Ein Schafskrimi, was soll denn das sein?“
„Das sind ein paar neue Krimis, sind im Moment total in, diese Schafskrimis.“
„Wenn ich das Wort Krimi höre, zücke ich die Pistole! Schafskrimi, das ist ja ekelhaft.“
„Sei nicht undankbar. Es täte dir nicht schlecht, etwas zu lesen, damit du auf andere Gedanken kommst!“
Sie nahm ein verstaubtes Buch aus dem Blumentopf meines Gummibaums.
„Schau dir das an, das Buch ist ja völlig verstaubt!“
„Ach, danke, das Buch habe ich schon die ganze Zeit gesucht.“Ich nahm es ihr schnell aus der Hand, wischte mit meinem Hemdsärmel über das Cover und steckte das zerknitterte Buch zu den anderen in der Fensternische.
„Ach, du hast mehr verloren als ein Buch.“
„Ich bin ans Bett gefesselt, was soll ich machen?“
„Das ist doch nur eine Ausrede, der Beinbruch ist dir doch gerade recht gekommen!“
Amalia steckte ihren Kopf zur Tür hinein und wollte wissen, ob Judith einen Tee oder Kaffee wolle.
„Ich muss gleich wieder, Amalia, danke! Also, wie steht es, wie geht es dir?“
„Ganz gut.“
„Spritzt du dir auch die Thrombose-Mittel?“
„Diese Injektionen machen mich völlig fertig“, erklärte ich erschöpft, „ich habe schon überall blaue Flecken.“
„Sei froh, dass du nicht zuckerkrank bist. Die Zuckerkranken müssen das jeden Tag machen. Wann kommt eigentlich der Gips herunter?“
„Nächste Woche.“
„Nächste Woche, na siehst du, dann geht es ja wieder aufwärts.“
„Nichts geht aufwärts, es wird sich nicht viel ändern.“
„Wieso soll sich denn nichts ändern?“, fragte Judith beleidigt.
„Ich werde weiterhin an den Rollstuhl gefesselt sein, daran wird sich nichts ändern. Und an dem Zustand der Welt schon gar nicht.“
„Aber doch nicht für immer, du tust ja so, als wärst du für den Rest deines Lebens an den Rollstuhl gefesselt.“
„Das meinte ich nicht.“
„Die Mobilisierung wird schnell beginnen, da sind die Ärzte heutzutage ziemlich fix!“
„Die Mobilisierung! Was für ein grässliches Wort.“
„Warum gehst du eigentlich nicht auf Kur, wo man sich um dein Bein kümmert und du im warmen Wasser liegen und Gymnastik machen kannst?“
„All diese sogenannten Wellness-Oasen“, antwortete ich aufbrausend, „sind doch nur dazu da, um den Menschen wieder fit zu machen, um sich weiter ausbeuten zu lassen. Das sind doch keine Erholungsorte, sondern Reparaturwerkstätten.“
„Da muss man sich bei dir ja keine Sorgen machen!“
„Wie meinst du das?“
„Du arbeitest nichts, also brauchst du dich auch nicht reparieren zu lassen.“
„Das Berufsleben ist ein einziger Bürgerkrieg geworden. Jedes Wellness-Wochenende ist doch nur ein getarnter Fronturlaub.“
(S. 28-32)
© 2013 Haymon Verlag, Innsbruck.