7. September 1896
Brief (4 S.) aus Florenz an Martha Freud
Meine Theuere
Unser letztes Erlebnis verdient einen ausführlichen Bericht u die zuerst hier gefundene häusliche Behaglichkeit ist dem Schreiben nicht ungünstig. Das Italienreisen ist nämlich nicht so ganz ohne Beschwerden, wie man sich's erwartet. Venedig zwar ist nichts als Genuß und Behagen, von da an weiter trifft man auf Kleinstädte ohne jeden Comfort oder Großstädte mit allen Nachteilen derselben. Man entbehrt das Meiste, was man sich als lieb angewöhnt hat, man hat sich eingeredet, daß alles billig sein muß und es kostet doch Geld. Die Eisenbahnfahrten sind gräßlich, unendliche Tunnels, schlechte Wagen, Rauch zum Ersticken, die Kost ist meist glänzend, aber doch ungewohnt, man leidet Durst, entsetzlichen in Anfällen auftretenden Durst, bei dessen Bekämpfung man sich gern den Magen verdirbt. Die Neuheit und Schönheit von Kunst und Natur entschädigt reichlich für Alles, aber für die Kunst kommt ein Moment, wo man im gleichmäßigem Genießen schwimmt, glaubt, es müsse so sein, keine Ekstaste mehr zusammenbringt, wo einem Kirchen, Madonnen, Beweinungen Christi ganz gleichiltig werden u man sich nach etwas Anderem sehnt, man weiß nicht recht, wonach. Soweit waren wir in Florenz bald gekommen, die Stadt erdrückt u überwältigt, die Denkmäler stehen zu halbdutzenden auf der Straße herum, die historischen Erinnerungen wimmeln so, daß man sie nicht auseinanderhält, die Florentiner machen ein Höllenspektakel, schreien, knallen mit den Peitschen, blasen Posaunen auf der Straße, kurz, es ist nicht auszuhalten. Wir haben Schrottfüße bekommen u nicht geschlafen. Die Malzeiten haben nichts mehr gekostet. Rings herum die schönsten grünen Hügel mit Oil und Wein bewachsen, das Reisebuch spricht von Landpartien u die Zeit reicht nicht für die notwendigsten Kirchen. In solcher Verfassung sind wir gestern nachmittag in die Boboligärten gegangen, eine Art Schönbrunn der Medicäer mit herrlichsten Marmorgruppen, Amphitheater, Obelisk, Neptuninsel udgl. Dann lasen wir von einem Aussichtspunkt auf den Hügeln, dem Torre del Gallo, wo Galilei lange Jahre gewohnt u den Himmel beobachtet haben soll. Wir kommen im Dunkeln hinein, der Kustode zündet Licht an, zeigt uns das Zimmer Galileis, Portraits von ihm, sein Fernrohr udgl. Im weiteren Verlauf hören wir, daß es noch Zimmer mit Sammlungen giebt, sehen ein Bild Michelangelo's von ihm selbst gemalt, einen Brief von Cromwell an den König Karl I, ein Autograph von Benvenuto Cellini, die Thüre vom Hause Machiavelli's udgl. Dann kommt heraus, daß das Ganze einem Conte Galetti gehört, der den oberen Stock bewohnt, die unteren Zimmer heuer vermiethet. Ein Entschluß blitzt in uns auf, die Weihe des Ortes, die Ruhe, Aussicht, der Garten nehmen uns gefangen, wir lassen den Conte kommen - einen auffällig schönen Mann übrigens - er benimmt sich herablassend genug, uns einen für Italien hohen, für Wien mäßigen Preis zu machen.
(S. 66 ff)
© 2002, Aufbau Verlag, Berlin.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.