23.-29.1.2017 – vierundsiebzig
23.1.2017
Das Wasser ist eingefroren. Nichts geht mehr. Und die Kälte soll uns noch bleiben.
Für Sonntag habe ich 20 Freunde eingeladen. Dafür will ich das Haus endlich mal richtig sauber machen. Das wird ohne Wasser nicht gehen. Ich sehe mich schon die Wassereimer vom Weiher durch den Garten heraufschleppen. Oder den Brunnen mit kochendem Wasser auftauen und Wasser pumpen. Wie früher, als ich noch keine Leitung in die Erde versenkt hatte. Oder noch früher: als wir Schnee aufgetaut haben für’s Abwaschen. Man braucht viel Schnee für ein bisschen Wasser. Da gab es noch viel Schnee. Vor dem Haus konnte man die Töpfe damit füllen, so oft man wollte. Aber da hätte ich nicht 30 Leute eingeladen.
Nee. So geht es nicht. Da muss ich absagen.
Schlafen kann ich natürlich nicht. Habe ein neues Buch angefangen, das mir passend vorkam: Der lange Winter am Ende der Welt. Ganz schön eisig. Bei mir auch. Ich müsste mir Handschuhe holen, um das Buch zu halten, mag aber nicht mehr aus dem Bett. Lege es weg. Was soll ich machen? Wann ist es Zeit abzusagen? Dann fällt mir – endlich! – ein, dass ich ja eine Heizung für den Brunnen habe, die bei starkem Frost zum Einsatz kommen sollte. Ich habe sie vergessen. War auch nicht nötig in den Jahren, seit das Winterwasser im Haus ist. Aber jetzt? Vielleicht ist ja schon im Brunnen eine Leitung zu und nicht da, wo ich dachte und geföhnt habe: in der Mauer zwischen draußen und drinnen.
Es ist schwierig, die Heizung in den Brunnen zu bringen und die Steckdose zu erreichen, aber es wird sein müssen.
Für meinen Kaffee habe ich noch Wasser, das ist gut. So kann ich den Tag anfangen und den Mut wachsen lassen.
Als ich ihn trinke, höre ich es rauschen: Wasser marsch! Schmutzig sieht es aus, wird aber sauberer. Wenn das kein Wunder ist!
24.1.2017
Der Rechner ist eiskalt. Ich habe ihn auf den Schoß in die noch ungeheizte Küche mitgenommen, ans Fenster, wo immer mein Tagebuchplatz war. Das Papier ist nie so kalt gewesen.
Es ist noch dunkel, aber nicht ganz, der Schnee leuchtet immer, auch in der Nacht.
Mein Wasser läuft. Ich habe es geschafft, unter Schnee und Eis und Isolierung an die Pumpe zu kommen, und das völlig eisfreie Wasser zu sehen. Toll. Aber. Ich habe auch das Eis gesehen, das an der Brunnenwand wächst, wo der Schlauch von der Pumpe unter die Erde läuft. 80 cm. So tief hat Jussuf gegraben, und wurde dabei von den Mücken geplagt, weil er so sehr schwitze. Es waren seit langem die heißesten Tage. Wenn wir den Schlauch nächsten Sommer isolieren, könnte es ohne Heizung gehen.
Jetzt hat sich auch noch mein Kühlschrank verabschiedet. Blöd, aber nicht tragisch. Draußen ist alles Kühlschrank, ich muss die Dinge nur aufs Fensterbrett stellen oder auf den uralten Neff-Gasherd legen, von dem ich mich nicht trennen kann. Einen neuen zu kaufen und den alten auszutauschen, das schaffe ich nicht mehr, habe mir noch soviel vorgenommen. Kochen, backen, putzen, einkaufen und eine Diashow vorbereiten – hab ich noch nie mit dem Rechner gemacht. Ich möchte meinen Freunden die zauberhaften Eisblumen zeigen, wenn schon mal so viele da sind.
Meine kleinen Zehen tun nun schon ein paar Tage lang weh, erst der linke, und jetzt auch der rechte. Es ist eine Art Schmerz, die ich noch nicht kenne. Google sagt, Frostbeulen gehen von selber wieder weg. Find ich gut.
Warm ist der Kühlschrank auch dann nicht, wenn er streikt. Das tut er gerade. Nein, das geht nicht mehr, bevor meine Freunde kommen: aussuchen fahren, den alten aus-, den neuen einbauen. Ich muss mit einem postfaktischen Kühlschrank leben und die Dinge vor das Fenster stellen. Aber nur kurz, denn das ist ein Gefrierschrank.
Alle, denen ich von meinem kaputten Kühlschrank erzähle, sagen: macht nichts, draußen ist ist es kälter als in jedem Kühlschrank.
25.1.2017
von den Blumen,
die ich nachts
an die Scheiben
geatmet hab
Ich hole noch eine Blumengeschichte von den Fenstern. Nur eine kleine, denn sie sind nur um meinen Kopf herum gewachsen. Vielleicht die letzten in diesem Jahr.
Kalt ist es immer noch. Meine nasse Hand bleibt am Griff kleben, als ich beim Abwaschen die Tür nach draußen aufmache, um den Kaffeesatz auf das Rosenbeet zu kippen.
Ich komme mir oft so knickrig und knausrig vor, zum Beispiel wenn ich weniger Holz in den Ofen lege, als für die Gemütlichkeit gut wäre. Wenn ich allein bin. Wenn ich Besuch habe, heize ich richtig. Würde ich für mich auch gerne tun, aber es fällt mir schwer. Da kommt dann „sparsam is nich geizich“ dazwischen. So waren sie. Aber auch großzügig. Möchte ich sein.
Nur einer meiner Freunde kommt nicht am Sonntag, weil er nach seiner Krebs-OP sehr schwach ist. Sonst wollen alle kommen! So war das noch nie.
Aber nicht nur das ist neu. Zum ersten Mal wird einer dabei sein, von dem wir wissen, dass er im nächsten Jahr fehlen wird. Paul kommt gerne, sagt er.
Von Mutti weiß ich, wie es in Ostpreußen war: Zum Geburtstag lädt man nicht ein, da geht man gratulieren. Da könnte ich hier lange warten, genauer: bis zum Nimmerleinstag. Mutti hat von ihrem schönsten Geburtstag erzählt: als die Männer im Krieg waren, diese Spaßbremsen, da habe sie auf dem Tisch getanzt. Muss 1940 gewesen sein, da war Papi im Lazarett. Gibt ein Foto von ihm im Bett neben vielen Männern, er schaut lachend in die Kamera. Mich gab es da noch lange nicht, ich bin erst zu Stalingrad gekommen.
Seit ich allein lebe oder „nur“ mit einem Lebensabschnittspartner wollte ich immer ein Fest machen, wenn ich Geburtstag hatte.
26.1.2017
Also gut. Geschrieben haben wird heute Abend besser sein als nicht geschrieben haben. Auch wenn Geburtstag ist.
Nichtstun muss nicht immer eine Belohnung sein. Oder ganz einfach selbstverständlich wie bei meinen Studenten in Cotonou. Die kamen manchmal am Abend für einen kurzen Besuch zu mir ins Hotel, und als ich Thierry im Rahmen unserer kleinen Konversation fragte: und was hast du heute gemacht? Ich meinte zwischen Uni und Abend, da sagte er: nichts.
Wie bin ich da erschrocken! Was? Nichts? Das geht doch nicht! Unmöglich.
Und jetzt, zwanzig Jahre später, bin ich immer noch dabei, das Nichtstun zu lernen. Das muss ich weiter üben.
Heute aber nicht. Jetzt noch nicht.
Yalla hat mit dem Schwanz gewedelt, als ich sagte, sie solle mir gratulieren.
Ich war noch nicht lange auf den Beinen, als das Telefon klingelte. Martha, die Hundefrau, mit der ich am Donnerstag Morgen immer die Runde um die Felder laufe. Für heute habe ich ein Brunch erfunden, um abzusagen. Ja, ich bin nachtragend. Wenn mir einer sagt, ihm wären die Rinder lieber gewesen als die Flüchtlinge, dann nehme ich das persönlich. Wie den Anruf des Nachbarn meiner Eltern, der Ende 89 morgens um fünf in mein Telefon bellte: gehn’s doch hin, wo’s herkommen sind! Jetzt können Sie’s ja! Hat der gleich Polen mit vereinigt?
Dass ich immer noch mit Martha laufe, kommt von der Hoffnung, ich könnte mit meinem Reden etwas ändern: unsere Hähnchenabfälle und feine Tomaten für Westafrika, Fische auf unseren Tischen, zweimal die Woche, ganz wichtig, von den Senegalesen geklaut, die jetzt Wirtschaftsflüchtlinge sind. Und mir bei der Gartenarbeit helfen.
dass es uns so gut geht, weil’s denen schlecht geht.
Manchmal nickt Martha, aber dann kommt’s ganz anders:
Ich habe davon gesprochen, dass ich an so einem sonnigen Wintermorgen immer an Mali denken muss, wo ich mit dem Sonnenaufgang am Niger entlanggegangen bin. Und dass es wunderbar war.
I versteh net, warum die net da bleibn, wenn’s da so schön ist?
Ich brauche drei Tage, bis ich verstehe, was sie gemeint hat. Weil ich es nicht glauben will.
Mir ham zum Fressn und zum Saufn gnua, schau mer dass do bleibt und drah mer d‘Hittn zua! (geklaut)
Ihr Hund springt meinem immer wieder ohne sichtbaren Anlass ins Gesicht.
Yalla ist nicht nachtragend, nur vorsichtig, nähert sich der Lisa jetzt nur noch von hinten.
Birgit hat einen Tag zu früh angerufen.
Man kann ja nur noch sitzen und warten. Sagt sie. Und mit dem Hund gehen. Nein, sie freut sich nicht an dem Schnee. Sie wird vom Nebel erdrückt. Sagt sie.
Was kann ich ihr sagen?
27.1.2017
Gestern: Morgens ruft die linke Nachbarin an, um mir nachträglich zu gratulieren. Nein: es ist heute! Ob ich da wäre, sie will in ihren Garten kommen. Wir verabreden uns zum Kaffee und sie will Kuchen mitbringen.
Die Nachbarin von gegenüber kommt, um Vogelfutter nachzulegen. Hat einen Piccolo dabei und gratuliert. Den soll ich dann nachmittags mit der anderen Nachbarin trinken. Prima. Bei Sonnenuntergang gehe ich wie immer mit dem Hund durch das Weiß. Der Mann, der da kommt, hat eine Stofftasche dabei und sagt: Zu dir wollte ich grade! Rotkäppchen ist da drin und eine Karte mit vier Schneemännern.
Ich schleudere die Tasche wie früher die Milch in der Kanne, die ich von Gänswürger geholt hab.
Die Freundin, die dreißig Jahre jünger ist als ich, sagt, als ich ihr davon erzähle: das muss der Renner gewesen sein. Davon reden gerade viele.
28.1.2017
auf dem Schnee
wenn/als die Meise
den Ast verlässt
wenn oder als ? Immer wieder oder nur einmal?
So macht mir Sprache Spaß.
Fehl am Platz im Deutschunterricht mit Flüchtlingen.
Wenn sie kommen oder als sie kamen.
Zum Schatten gehört Gottfried Benn – ich kann doch nicht aus meiner Haut:
von Ästen, bewegt im Mittagswind
Das ist genügend Erde
und hinsichtlich des Auges
genügend Teilnahme
am Himmelsspiel
Spuren laufen aufs Haus zu, Linien, die aus einem Loch kommen oder darin enden. Mäuse. Im Augenwinkel sehe ich sie manchmal huschen, verschwunden sobald ich hinschaue. Wollen sie immer noch ins Haus? Ich bin nicht sicher, ob noch immer eine Maus bei mir wohnt. Die Fallen sind leer geblieben. Ich höre kein Knabbern, nur hin und wieder ein zu lautes Knacksen, bei dem der Hund den Kopf hebt. Danach wieder nichts. Irgendwann werde ich wieder einen durchlöcherten Pullover oder angefressene Papiere wie die Grundbuchauszüge finden. Ich weiß nicht, wann sie nicht mehr ins Haus kommen wollen.
29.1.2017
Über die weiten Schneeflächen laufen Hasenspuren kreuz und quer. Der Schnee hat sie gesammelt in diesen kalten Wochen. Rehe müssen oft in derselben Spur gelaufen sein, so breitgetreten, wie von ihren Füßen jetzt ist.