20.-24.4.2017 – Die andere Seite der Hoffnung
20.4.2017
Krieg in Timbuktu und an meinen Büchern beißen die Mäuse. Der Schnee hat sie wieder ins Haus getrieben. Ich hole vier Fallen aus dem Schuppen zurück, bestücke sie mit Käse, ohne einen Finger fangen zu lassen, und stelle sie bei den Büchern auf. Das mache ich hier.
Und dort?
Mail von Mamadou:
bonjour
comment allez vous, j’espère que vous vous porte bien, vraiment sa ce complique ici même hier il ya eu des cout de feu autour de Tombouctou.a Gourma Rharous un affrontement entre l’armée et les bandits, faissant 4 militaire mort et plusieurs bandits morts aussi.
dans la nuit ici nous n‘avons pas dormir avant hier, des tires autour de la ville.
fatouma avec son état de grosse n‘a pas puis supporte sa, elle est malade, ce matin je le amené a l’hôpital pour visite, le docteur a fais un grand ordonnasse tout a l‘heure que nous devons cherche vite, s‘il vous plais envoie moi 100 euros pour sa, je compte sur vous pour aujourd’hui, elle souffre vraiment.
vraiment ont a eu peur , sa ne vas pas du tout, toute la ville est devenir calme. a bientôt
Ich dachte: versuch’s doch mal mit PONS, vielleicht verstehen die Mamadou besser als ich. Es wird ein Witz – aber nicht zum Lachen:
guten Tag
wie gehen Sie zu Ihnen, ich hoffe, dass sein Sie auf Sie wirklich bringen, wirklich das hier sogar gestern er ya, mitc des Feuers um Tombouctou. a Gourma Rharous ein Sich-Gegenüberstehen zwischen der Armee und den Räubern, dem faissant 4 toter Militär und mehrere tote Räuber auch gehabt, kompliziert.
in der Nacht hier haben wir nicht, vorher gestern, Schlitten um die Stadt zu schlafen.
fatouma mit ihrem Zustand vollstreckbarer Ausfertigung hat nicht dann stützt ihr, sie ist krank, dieser Morgen ich es, was gebracht ist, hält das Krankenhaus für Besuch, der Doktor hat, mache einen Großen, befahl alles, hat die Stunde, die wir schuldig sind, suche schnell, wenn er Ihnen gefalle, schicke ich 100 Euro für ihr, zähle ich auf Sie für heute, sie leidet wirklich. wirklich haben, hat, ihr gefürchtet, gehst gar nicht, ist ganz Stadt ruhig zu werden.
hat bald
Gibt es noch etwas Dümmeres?!? Warum macht man das?
Schwangerschaft = vollstreckbare Ausfertigung!?!
Jetzt aber im Ernst und wie ich es verstehe, schreibt Mamadou:
wie geht es Ihnen, ich hoffe … gut, hier wird es wirklich schwierig, gestern gab es mehrere Schießereien um Tombouctou. In Gorurma-Rharous war ein Kampf zwischen der Armee und den Banditen, dabei wurden vier Soldaten und auch mehrere Banditen getötet.
In der Nacht haben wir nicht geschlafen seit vorgestern, Schüsse um die Stadt.
Aminata in ihrem Zustand der Schwangerschaft hat es nicht mehr ertragen, sie ist krank, heute Morgen habe ich sie ins Krankenhaus gebracht, der Arzt hat sofort eine große Untersuchung gemacht, wir müssen schnell suchen, bitte schicke mir 100 € dafür, ich zähle auf Sie heute, sie leidet wirklich.
Wirklich, man hat Angst gehabt, es geht ganz und gar nicht, die ganze Stadt ist still geworden.
Bis bald
Geld – was sonst. WU – Western Union – müsste wi – wie immer – heißen.
Ich denke an Idrissa, der ist doch mit Frau und Kind, Zelt und Ziegen nach Gourma-Rharous gezogen! Ich werde ihn anrufen.
21.4.2017
Aufgeschreckt von einem Geräusch, als würde ein Ei über den Holzboden gerollt, und ein Kratzen dabei. Hat ein Eichhörnchen ein Ei geraubt? Im Wacholder über mir wohnen die Amseln. Das wissen die Eichhörnchen und die Rabenkrähen, gestern habe ich die im Baum gehört und aufgescheucht. Ich muss aufstehen, es macht mir keine Freude mehr, das Eichhörnchen die Birke hinaufrennen zu sehen. Wo sind die Stare?
Keiner da. Am Morgen waren sie in den letzten Wochen immer sehr munter. Jetzt ist bald Mittag. Auch die Krähen? Sie haben die Stare immer im Auge gehabt. Schwarz und groß sind sie vor den Häuschen und darauf gesessen. Heute habe ich noch keine Krähe um die Starenkobel gesehen. Überall sind sie, aber nicht bei den Starenkobeln. Es ist, als wäre dort kein Leben mehr.
Ein Abend mit Freunden
Im Glas vor den Bildern an der Wand sehe ich den Schatten an einer weißen Hauswand hochsteigen. Langsam, ganz langsam.
Das ist genügend Sonnenuntergang
genügend Teilnahme am Himmelsspiel (nochmal geklaut) unter Freunden
23.4.2017
Samstagabend: erst essen beim Syrer und dann – gleich um die Ecke – Kaurismäki. Da wundere ich mich, dass es in Finnland so ist wie „bei uns“. Die andere Seite der Hoffnung sieht überall gleich aus. Wie die Bilder aus Aleppo. Mit Kaurismäki kann man hinschauen.
Als ich das, was ich jetzt „beim Syrer“ hier esse, in Aleppo gegessen habe, saß ich mit Frauen und Kindern in einem durch einen Vorhang abgetrennten Raum eines Restaurants und war nie allein an einem Tisch. Wir haben mit Gesten miteinander gesprochen. Nicht so wie hier, wo drei Menschen an drei Tischen sitzen.
Einer davon bin ich.
Im Kino habe ich eine ganze Reihe.
„Gehst du allein ins Kino?“ hatte mich meine Freundin gefragt. „Was soll die Frage? Ich bin nicht verabredet.“ – „Ja, das habe ich gemeint.“
Allein ins Kino ist für mich normal, seit ich wieder so lebe, und wie früher, bevor ich nicht mehr allein lebte. Meinen ersten Kinobesuch habe ich Ostern – vermutlich – 54 geschenkt bekommen, einen Logenplatz im Capitol. Vielleicht hätte ich lieber mit anderen mit weit zurückgelegtem Kopf in der ersten Reihe gesessen als ganz allein in der Loge. Aber die anderen hatten Ostern anderes zu tun. Ich hatte Meines Vaters Pferde mit Curd Jürgens und Martin Benrath. Da war ich elf und fing an, für Curd Jürgens zu schwärmen. Nach Martin Benrath habe ich noch lange geschaut, bis zu Berlinger, ein deutsches Abenteuer. Wo er mit seinem Segelflugzeug im Walzertakt – An der schönen blauen Donau - über ein wunderschönes Bayern trudelt, um sich am Ende in einen Baum fallen zu lassen. Damit war Benrath für mich vorbei, als wäre er im richtigen Leben auch gestorben. Viel später habe ich mich gewundert, wie lange er dann noch gelebt hat, viel länger als Curd Jürgens.
Wir gehen nach Bayern, mon amour.
Wer diesen Weg nach Bayern nie gegangen ist, soll mir nicht mit der Liebe kommen.
Ich weiß morgens nie, wo ich am Mittag angekommen sein werde, wenn ich den Laptop zuklappe. Heute ging es die Bücherwand hinauf und wieder herunter auf der Suche nach diesem Satz. Hiroshima mon amour. Duras. Sie ist nicht mehr da. Muss mit der anderen Hälfte meiner Bücher dem Umzug zum Opfer gefallen sein.
Aber ich bin mir sicher, dass der Satz richtig ist. Habe ihn doch inzwischen oft genug wiederholt.
Wie so viele alte Sätze richtig sind in meinem Kopf – im Gegensatz zu den neuen Sätzen, von gestern oder vorhin.
Einmal Einzelkind, immer Einzelkind. Da kann man manches nicht lernen, was man für das Leben in einer Beziehung braucht.
Wenn aber ein Anderer da ist, dann ist das so besonders und der so wichtig, dass ich augenblicklich alles vergesse, was ich mir vorgenommen hatte. Das merke ich erst, wenn dieser Andere wieder in sein Auto steigt.
Ich kann nicht schlafen, wenn ein Anderer neben mir ist, ohne seinem Atmen zu lauschen. Aber Alleinsein kann ich gut.
Meine Große, die kein Einzelkind war, weil ich nie ein Einzelkind haben wollte, hat mich darum beneidet. Sie bekam ihre Schwester und konnte überhaupt nicht allein sein. Hat auch nicht alleine sterben wollen. Wollte mich locken, mit ihr zu gehen: das wäre doch toll!
Heute hilft mir, was ich so früh gelernt habe, als mir der Wunsch nach einem Gegenüber abgewöhnt worden ist. Selbstwirksamkeit ?!? Gibt’s denn sowas? Nicht 1943. Da wurde das schreiende Kind in ein Zimmer geschoben, wo man es nicht mehr hörte. Und wenn wirklich nichts mehr zu hören war, wieder hereingelassen.
Nur allein habe ich hinausgehen können aus Europa, in den Nahen Osten, nach Afrika. Und noch ein anderes Leben erfahren mit mir. So war es gut, dass das erste Leben mit 37 zu Ende ging, als meine Mutter starb, und die Ehe aufhörte, Ehe zu sein.
Dann war zu lernen, dass Freiheit immer auch Einsamkeit ist. Ich drehte es um: wenn schon Einsamkeit, dann auch Freiheit.
Warum rede ich soviel von den frühen Dingen.
Weil sie mit dem Altwerden wieder näher kommen und ich mich erst jetzt besser verstehen kann. Wann, wenn nicht jetzt.
Kapitän hätte ich gern werden wollen mit vierzehn.
Einmal noch nach Bombay. Oder nach Shanghai. Einmal noch nach Tokio oder nach Hawai, einmal durch den Suez und durch den Panama… Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong… Mich rief es an Bord, es wehte ein frischer Wind …
Meine Ferienschwester wollte immer, dass ich die Albers-Lieder vor dem Einschlafen sang.
Nimm mich mit Kapitän auf die Reise.
Aber dazu hätte ich ein Junge sein müssen.
24.4.2017
Wut tut gut. Ziemlich neu für mich. Heute hat sie umgedreht, was gerade hinunterrutschen wollte in die Tiefen von Unverstandensein, Ratlosigkeit, Traurigkeit.
Als ich das Chaos gesehen habe von einem am offenen Kühlschrank aus der Hand gefallenen großen Joghurt, wollte ich losbrüllen.
Mein Tag fing mit einer Viertelstunde putzen an. Musste das sein?!? Wenn ja – warum?
Damit ich sehe, wie’s grade in mir ausschaut? Nein! So nicht!
Es fühlt sich an wie damals, als ich, um aus meiner geradezu lebensgefährlichen Abhängigkeit herauszukommen, nach zwölf Jahren daran dachte, ein neues Studium an mein altes anzuschließen. Als unsere Uni die neue Philosophische Fakultät bekommen hatte, wollte ich es versuchen. Ich dachte, dann würde ich interessanter für meinen Mann.
Der meinte: kannst studieren, hab ich nichts dagegen, aber zu Hause muss alles so bleiben wie es ist. Das bedeutete: ich konnte dann zur Uni, wenn er – der Lehrer – in der Schule war, und musste mittags das Essen wie immer auf den Tisch bringen. Salat, Hauptgericht, Nachtisch. Es war ja noch die Zeit – 68 hin oder her – , wo ein Mann seiner Frau das Arbeiten verbieten konnte. Natürlich sagte ich: also gut. Oft bin ich in der Bibliothek erst mal eingeschlafen, dann blieben mir höchstens noch drei Stunden an diesem Tag. In zwei Jahren hatte ich einen Magister, das Promovieren ging auch noch, bis mir eine Stelle zufiel.
Bis dahin hatte ich die Angst in unserer Beziehung, und als sich zeigte, dass dies nicht nur meine Angst gewesen ist, war das eine unverzeihliche Kränkung.
Kämpfe, Verletzungen, ich lag im Bett und konnte mich gar nicht bewegen, einschlafen auch nicht, als da auf einmal die Frage in meinem Kopf war: „Wie war das nun mit dem Kohlhaas?“
Fühlte sich an wie ein Ausweg, ins Freie, wo ich wieder atmen konnte. Ein Wunder. Wollte ich nie wieder vergessen.
Gedanken wie dieser waren manchmal der Schopf, an dem ich mich selbst aus quälender, lähmender Ausweglosigkeit herausgezogen habe.
„Wenn ich wieder so eine Frau finde, wie du warst, dann bin ich weg.“ Hat er gesagt. Und ich hab gedacht: so eine Blöde findest du nicht nochmal. Irrtum. Er blieb keine Nacht alleine und ist mit einer neuen alt geworden.
Davon wollte ich ja gar nicht reden. Nun ist es passiert.
Heute weiß ich nicht, ob es meine Stimmen oder die der anderen sind, wenn ich wieder höre: Du kannst machen, was du willst, wenn alles so wie immer für uns bleibt. Ich fürchte, meine Tochter könnte in der Spur ihres Vaters laufen. Mich dort zurücklassen, wo ich mein Leben in die Hand nehme. Mit Flucht in die Finsternis hatte ich mit Schnitzler über Selbstmord nachdenken wollen, ohne von mir selbst zu sprechen. Als ich meine Doktorprüfung machte, war ich allein.
Natürlich habe ich wieder Angst, dass der Mensch mich verlässt, den ich liebe. Und ich könnte mein Teil dazu beitragen. Gefahr des Wiederholungszwangs. Erkannt – gebannt?
„Kinder müssen Eltern lieben. Sie können nicht anders.“ (geklaut) Der Psychiater. Darauf kann auch ich mich verlassen.
Ich habe zum ersten Mal gesagt, dass ich im Haus ungestört sein will, als ich merkte, wie ich nicht weiterarbeiten konnte, wenn jemand in meiner Küche herumwirtschaftete. Ich habe nur die Küche und ein Wohn-Arbeits-Gästezimmer. Am Vormittag will ich nichts hören im Haus. Es geht um Privatsphäre. Dass mein Haus nicht mehr selbstverständlich und immer für alle da ist, wo es jetzt mein einziges ist. Seit vier Jahren. Es gibt ja noch ein zweites, einfacheres, ein Sommerhaus, das ich meiner Tochter geschenkt habe, ihre Privatsphäre.
Ich habe jahrelang über feministische Literatur geredet und gearbeitet, und bin nach Hause gekommen – da galt das alles nicht. In mir gab/gibt es eine tiefe Gewissheit: alles, was mit „Gleichberechtigung“ zu tun hat, ist richtig und wichtig – aber nicht für mich. Nicht für dich! So höre ich es. Immer noch. Sonst könnte ich ja in Ruhe von meinen Rechten reden.
Dazu brauche ich mit 75 Nachhilfe und war heute schon, wo ich noch nie gewesen bin: im GG. Da gibt es sie tatsächlich: die Privatsphäre §1.1 und 2.1. Hilft mir das weiter? Nee. Genauso wenig wie der Feminismus.
Ich rechne die mögliche Restlaufzeit aus, die ich selbst bestimmen möchte. Ob sich die Mühe noch lohnt?
Die Welt ist das, was ich sehe und was ich fühle.
Wenn ich das nicht mehr kann, gibt es sie für mich nicht mehr. Mein Land. Ich werde es verteidigen müssen. Eine Depression wäre für mich jetzt die Krankheit zum Tode.
Wer macht mir heute den Kohlhaas?
Ohnesinn – wäre es das? Gewiss – wenn dies nicht gleichzeitig der Grund für meine Frechheit zur Freiheit wäre.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de