7.-17.10.2017 – die schönen Tage
7.10.2017
Es werden schon noch schöne Tage kommen.
Das sagte mein Vater immer an solchen Tagen im Oktober wie heute, wo es regnet und im Garten noch viel zu tun ist vor dem Winter. Es werden schon noch schöne Tage kommen.
Ich bin wieder unten. Erschöpft und zufrieden. Einmal im Herbst hinauf ins Gebirg, das muss sein, solange es geht.
9.10.2017
Aber ich bin müde. Noch immer müde. Und ratlos, wie ich die Dinge angehen soll, die im Oktober noch zu tun sind, wenn ich so müde bin. Es sind schöne Tage – und ich tue nichts.
Ohnesinn trägt sich und mich auch nicht weiter.
11.10.2017
Die Ernte der Schlaflosigkeit (geklaut)
Um halb vier war es so weit. Sie ist da. Beinahe pünktlich, wenn es nach den Chinesen geht: vier Uhr ist die Zeit der Gestorbenen. Da tauchen sie gerne auf.
Meine Große. Ihr Geburtstag kommt auf mich zu und ist immer soviel schwerer als der Todestag fünf Wochen später.
So traurig, wie ein Geburtstag nur sein kann, wenn man das Ende weiß.
13.10.2017
In Timbuktu hören sie wieder Schüsse. Keiner weiß, wie es weitergeht. Schreibt Mamadou.
14.10.2017
Wenn meine Stare nächstes Jahr wiederkommen, sind sie die Vögel des Jahres und auf „gefährdet“ hochgestuft. Der Star hat in den letzten zwei Jahrzehnten über 30 Prozent seines Bestands verloren. Vor 20 Jahren gab es noch etwa 4,5 Millionen Tiere, jetzt haben wir nur noch drei Millionen Exemplare. Noch ist der Vogel gut verbreitet, aber er nimmt sehr, sehr stark ab.
was immer schon da war
sieht man erst
wenn man bleibt
Das sind die letzten Worte in meinem Fotobuch mit Spinnennetzen. Perlen heißt es. Ich habe damit das Schöne, Wunderbare gemeint, das festzuhalten mir gelungen ist.
Heute sehe ich mehr, und schön ist es nicht. Industrie – endlose Maisfelder, wo Wiesen waren, platt gemachte Ackerränder – und was ich nicht sehe, sehe ich auch: das Rotkehlchen, das nicht mehr kommt, die wenigen Meisen, den unbewohnten Starenkobel, die Kühe, die auf den letzten Wiesen fehlen, weil sie ihren Stall nicht mehr verlassen können.
Ich kann das doch nicht vergessen, wenn ich mit dem Hund um die Felder gehe, von denen die meisten gerade erst gepflügt sind, denn da war der Mais. Und da wird wieder Mais sein. Bis nach drei Jahren einen Sommer lang Getreide wachsen darf.
Am Abend gibt es dann immer neue Informationen. Wissen und jeden Tag sehen, wie soll man das aushalten? In der Stadt war es leichter. Das habe ich jetzt davon.
Da hat auch mein Auftritt beim Bürgermeister nichts geholfen, als der Bauhof gerade mal wieder vernichtend ausgerückt war.
Ich frage mich, wo Menschen die Zuversicht hernehmen, etwas bewirken zu können. Weil ich die nicht habe, bin ich auch nicht zum BUND gegangen. Kommt mir so vor, als würde man sich nur gegenseitig trösten. Miteinander Augen wischen gegen das Gefühl von Hilflosigkeit.
Ich will irgendwas tun. Übersprungshandlung? Wenn’s hilft?
Ich stelle mir vor, eine Arbeit in die Hand zu nehmen, die unbedingt gemacht werden muss, die ich mir aber nicht – mehr – zutraue: die Rahmen der großen Verandafenster abschleifen, spachteln und morgen dann streichen. Dazu muss ich auf eine Leiter steigen und eine Maschine einsetzen: die Maus. Die mochte ich immer gern, denn mit ihr konnte ich Arbeiten machen, zu denen meine Hände die Kraft nicht hatten. Aber die Leiter.
Sie muss auf weichem Boden stehen und kommt mir wackelig vor. Meine Mutter ist beim Fensterputzen davon herunter und auf den Waschbeton gefallen. Da war sie fast zehn Jahre jünger als ich es jetzt bin. Als sie ein paar Jahre später bei der Operation eines Gehirntumors starb, habe ich immer wieder an den Sturz denken müssen. Ich habe das Fenster nie selbst geputzt. Und heute will ich mit der Maus hinauf?
Nicht mehr. Hab’s versucht. Aber auch für die Maus brauche ich Kraft in den Händen, die da nicht mehr ist.
15.10.2017
von links nach rechts
von rechts nach links
Wind lässt Licht wandern
von rechts nach links
von links nach rechts
Ich hätte warten können – auf diese Sommerwoche: warm und bunt. Richtig bunt. Ich hätte nicht warten können.
Und daraus drehe ich mir jetzt einen Strick.
Guter Satz!
Weil er zeigt, wie blöd man sein kann. Sollte ich bereithalten, wenn ich dabei bin, mich zu vergrübeln: Warum?!? Warum nicht?!?
17.10.2017
Ich habe die Fenster gestrichen. Ich bin nicht runtergefallen. Alhamdellulai!
Mit der Maus hat mir eine junge Freundin geholfen, das Streichen habe ich mit Mühe, viel Mühe, geschafft.
Hauptsache: nicht runtergefallen!
(das war jetzt aber wirklich das letzte Mal)
Übermorgen ist ihr Geburtstag. Wie kommt er diesmal. Wie wie wie.
Wie wird er kommen und wie lässt er mich zurück. Jedes Jahr die gleiche Frage.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de