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Ausschnitt aus DER WINTERFALKE von Andrea Gunschera
Amira hob eine behandschuhte Hand, um ihr Gesicht vor dem Schneetreiben zu schützen. Ein frostiger Wind tobte über die Hügel, verwob Sonne und Schneekristalle zu einem Netz gleißender Diamanten und riss ihr den Atem von den Lippen.
Unter ihr tänzelte Feykir, der graue Hengst, das letzte Geschenk ihres Vaters. Sie beugte sich vor, die Mähne zu zerzausen. Reif überzog die eingeflochtenen Perlen, die jenen glichen, die ihr eigenes Haar unter der Fuchspelzkapuze schmückten. Nun war sie selbst ein Geschenk. Ein kostbares Juwel, mit dem sich Arwendale das Wohlwollen des Ostens erkaufen wollte.
Verbittert dachte sie an die Edelfrauen im Palast des Hochfürsten, diesen Schwarm Tauben in Wolken aus Seide und Gold, die sie stets verachtete. Ihr Vater hatte sie wie den Sohn erzogen, der ihm versagt geblieben war. Er lehrte sie Liebe und Stolz. Doch nun war ihr Vater tot, und sein Bruder, dem die Vormundschaft über den Haushalt zufiel, verschacherte sie, bevor die Leiche ihres Vaters ausgekühlt war.
Brynjar schloss zu ihr auf, der Hauptmann der Wache, ein Hüne mit rotblonden Zöpfen und zwei Säbeln auf dem Rücken. Der Sturm hat uns zu tief nach Westen getrieben! Seine Stimme wogte gegen das Heulen des Windes. Seht Ihr die Berge dort drüben?
Amira wandte den Kopf. Nicht weit entfernt erhob sich das Massiv, eisbedeckt, die Gipfel hoch in den Wolken. Abendsonne flutete die Abhänge mit Blut und Gold.
Das ist das Hjálmun-Gebirge, verkündete Brynjar mit gerunzelter Stirn. Die Männer machen sich Sorgen. Ihr solltet in den Wagen zurückkehren.
Was stimmt nicht mit dem Gebirge?
Wir sollten nicht hier sein. Ihr kennt die Geschichten. Niemand nähert sich den Gipfeln von Hjálmun ...
Ammenmärchen. Sie lächelte spöttisch. Glaubt Ihr daran?
Brynjar beschirmte seine Augen. Letztes Jahr sind zwei Handelszüge verschwunden.
Sie haben sich in den Schneefeldern verirrt.
Ich weiß nicht. Sein Körper verriet Unbehagen, als er sein Gewicht im Sattel verlagerte. Ich denke jedenfalls, dass es sicherer für Euch ist, wenn Ihr in den Wagen zurückkehrt.
Das wäre kein gutes Zeichen für Eure Männer. Den Teufel würde sie tun, unter die muffigen Pelze im Wagen zu kriechen, wo sie die Vorträge ihrer weinerlichen Amme Gudrun ertragen musste und der Kammermädchen, die nichts Besseres wussten, als über das Aussehen und die Liebeskünste des östlichen Herrschers zu spekulieren. Sie schürzte die Lippen. Das ist flache Tundra. Wir können Feinde auf eine halbe Stunde Entfernung ausmachen. Unwahrscheinlich, dass wir in einen Hinterhalt geraten.
Manche Feinde sind unsichtbar, beharrte Brynjar.
Oh ja? Amira musterte ihn mit einem langen Blick. Erzählt mir mehr davon. Habt Ihr bereits gegen Geister gekämpft? Wie kann man sie töten?
Seine Schultern sanken nach vorn, Erschöpfung trat in seine Augen. Sie fühlte einen Stich Schuld, weil sie ihn in die Ecke trieb. Der Mann war gefangen zwischen seinen Befehlen und dem Bedürfnis, nicht wie ein Schwächling vor ihr zu stehen. Und sie machte es ihm nicht leicht. Brynjar konnte nichts dafür, dass ihr Onkel sie gegen ihren Willen nach Oostgard schickte. Er war nur ein Krieger des Hochfürsten, dem sie aufgetragen hatten, sie sicher durch die Schneefelder zu geleiten. Zaumzeug klirrte. Feykir schnaubte und warf den Kopf zurück.
Die Pferde spüren es auch. Brynjar deutete zum Himmel. Seht Ihr?
Amira musste blinzeln, weil die Sonne sie blendete. Dann entdeckte sie den schwarzen Punkt, der über ihnen schwebte. Ein Raubvogel, weit entfernt.
Der folgt uns schon seit einiger Zeit. Der Hauptmann ließ die Hand sinken. Die Männer glauben, es ist ein böses Omen.
Ein Vogel?, fragte sie ungläubig. Sie fürchten sich vor einem Vogel?
Vielleicht ist es kein gewöhnlicher.
Was dann? Ein Dämon in Vogelgestalt? Sie lachte auf. Bringt mir meinen Bogen.
Aber Herrin ...
Meinen Bogen! Ich hole euren Dämon vom Himmel!
Brynjars Wangenmuskeln verhärteten sich, doch er gehorchte ohne ein weiteres Wort.
Hitze schoss ihr in die Adern, die Vorfreude der Jagd. Sie zog Feykir auf der Hinterhand herum. Schnee knirschte unter den Hufen des Pferdes.
Dies waren die letzten Tage, die ihr verblieben. Die letzten kostbaren Tage in Freiheit. Ein verzweifelter kleiner Teil von ihr hoffte gar, dass Brynjars Furcht begründet war und dass ihnen ein Kampf bevorstand, ein bewaffneter Hinterhalt, der das Unvermeidliche hinauszögerte. Wenn sich erst die goldenen Gitter hinter ihr schlossen, würde sie lebendig begraben sein. War das ihr vorgezeichnetes Schicksal? Als Nebenfrau im Harem des Kaisers von Oostgard zu enden, ohne Bedeutung, eine unter Hunderten, die auf dem Altar politischen Kalküls geopfert wurden? Oft hatte sie sich das gefragt, seit dem Tod ihres Vaters.
Amira streifte ihren Umhang zurück. Die Kälte fiel sie an wie ein Raubtier mit scharfen Zähnen, kroch durch die Schichten dünner Wolle und ließ ihre Muskeln zittern. In ihrem Rücken brüllte Brynjar Befehle. Wenig später brachte einer der Soldaten ihren kostbaren Jagdbogen und den Köcher mit den Schwarzholzpfeilen.
Der Zug stockte. Mehr Krieger schlossen auf und reckten die Köpfe, um herauszufinden, was geschehen war. Vom hinteren Ende her näherte sich ein Reiter in einem schweren weißen Pelzumhang und eisverkrustetem Haar. Ulf, der doppelzüngige Botschafter des Hochfürsten. Warum halten wir?, fragte er.
Brynjar machte eine hilflose Kopfbewegung hin zu Amira.
Sie fing den Blick des Botschafters und hielt ihn fest, bis er unbehaglich die Lider senkte. Wir wollen herausfinden, ob die Dämonen von den Hjálmun-Gipfeln sterblich sind oder nicht. Leichtfüßig glitt sie aus dem Sattel, grub ihre Stiefel in den Schnee und folgte der Bahn des Vogels. Stolz brannte in ihrem Blut, geboren aus Zuversicht. Sie hob den Bogen, legte einen Pfeil auf und zog die Sehne zurück.
Tief atmete sie ein und zielte.
Wind liebkoste die Befiederung am Ende des Schafts.
Der Pfeil schnellte davon, zerschnitt die Luft, entschwand zuletzt dem bloßen Auge. Reglos starrte Amira hoch zu dem schwarzen Punkt. Sie hielt den Atem an und spürte, dass alle anderen es ihr gleichtaten. Freiheit lag im leuchtenden Gold des Himmels, den frostweißen Weiten zu ihren Füßen, im Schnauben der Pferde und dem Heulen des Sturms. Dann stockte der Flug des Vogels. Jubel erhob sich unter den Männern, als offenbar wurde, dass sie getroffen hatte.
Ein Meisterschuss, sagte Brynjar voller Respekt.
Ich weiß. Sie reichte ihm den Bogen und stieg in den Sattel, trieb Feykir zu donnerndem Galopp. Brynjar brüllte ihr Worte nach, die sie nicht verstand. Schnee stob auf, der Wind riss ihr die Kapuze vom Kopf und schürte die unbändige Freude in ihr. Der Hengst trug sie die Ebene hinab, die Berge zur Rechten, bis zu einer glitzernden Senke.
Sie zügelte das Pferd und warf einen Blick über die Schulter. Sie folgten ihr, das mussten sie, doch niemand war Feykir gewachsen. Oder vielleicht hielt Brynjar sie zurück, weil er verstand, dass Amira diesen Moment brauchte, ihn verzweifelt brauchte, um später davon zehren zu können.
Brynjar war kein schlechter Mensch. Er konnte nichts für seine Befehle.
Amira musterte die Eisfläche zu ihren Füßen, ein zugefrorener See. Schneewehen glitzerten im verblassenden Licht des Himmels. Nach einigem Suchen entdeckte sie den Leib des Vogels und setzte Feykir wieder in Trab. Der Untergrund knirschte hohl unter den Hufen des Pferdes, doch sie sorgte sich nicht sehr. Diese Eisschicht war stark genug, um ein Fuhrwerk zu tragen.
Feykir jedoch gebärdete sich nervös und scheute bei jedem Schritt. Amira hatte Mühe, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Leiser Ärger stieg in ihr hoch. Nicht nur, dass sie sich mit den abergläubischen Ängsten ihrer Eskorte herumschlagen musste, jetzt ließ sich selbst ihr Pferd von der unterschwelligen Panik anstecken, die Brynjar und seine Leute ausdünsteten.
Der Vogel lebte noch. Er flatterte zur Seite, als sich Amira näherte, doch konnte er sich nicht mehr in die Luft erheben. Ihr Pfeil hatte ihm den Flügel durchbohrt. Ein paar Tropfen Blut benetzten den Schnee. Das Herz schlug ihr bis in den Hals, als sie erkannte, dass es ein Winterfalke war, eine kostbare und seltene Jagdbeute.
Dann traf sie der Blick des Tieres und ließ sie zusammenzucken. Die Emotionen in diesen goldfunkelnden Augen fühlten sich erschreckend menschlich an. Hass las sie darin und Schmerz und einen trotzigen Stolz, so seelenverwandt, dass sie einen Schritt zurückstolperte. Ihr wurde heiß, trotz der schneidenden Kälte.
Ihre Finger strichen über das Heft ihres Dolches, doch sie brachte es nicht fertig, die Waffe zu ziehen und ihren Sieg zu vollenden. Einen Herzschlag später hörte sie Hufschlag in ihrem Rücken und wusste, dass der Moment ihrer Einsamkeit vorüber war. Entschlossen beugte sie sich zu dem Falken hinab. Der Vogel kämpfte, als sie nach ihm griff, hackte nach ihrer Hand und peitschte die Luft mit den Flügeln. Ein scharfer Schmerz zuckte ihren Arm hinauf, dann hatte sie beide Klauen mit ihrer behandschuhten Rechten gepackt. Blut quoll aus einem Kratzer an ihrem Handgelenk.
Benötigt Ihr Hilfe?, tönte Brynjars Stimme hinter ihr auf.
Amira drehte den Kopf, während sie zugleich versuchte, den Vogel festzuhalten. Der Falke tobte wie ein Berserker.
Eine Decke!, stieß sie hervor.
Ihr wollt ihn mitnehmen?, fragte der Karawanenführer ungläubig.
Ich zähme ihn. Sie hielt inne, überrascht, dass sie das gerade gesagt hatte. Aber ja, warum eigentlich nicht? Es gab keinen Grund, dieses prachtvolle Tier zu töten. Sein Flügel ist verletzt.
Brynjar glitt aus dem Sattel und löste seinen Umhang, dann half er ihr, den Falken darin einzuwickeln. Der grobe Wollstoff dämpfte die Raserei des Vogels, bis er endlich aufgab und sich in sein Schicksal fügte.
Seid Ihr sicher, dass das eine gute Idee ist?
Amira zuckte mit den Schultern. Wenn das ein Dämon ist, bin ich nicht beeindruckt. Herausfordernd musterte sie die Krieger auf ihren Pferden. Und ihr solltet es auch nicht sein.
Am Horizont leuchteten die Abhänge des Hjálmun, als stünden sie in Flammen.

Sie errichteten das Nachtlager in einer geschützten Senke, nicht weit entfernt von der Stelle, an der Amira den Falken vom Himmel geholt hatte.
Durchdringend starrte der Vogel sie an, als sie ihr Zelt betrat. Einer der Krieger hatte ihm die Füße mit einer Lederschnur gefesselt. Noch immer ragte der Pfeil aus der Wunde.
Der goldene Blick ließ Amira frösteln. Unwillkürlich tastete sie nach dem Verband an ihrem Handgelenk. Du bist ein Kämpfer, nicht wahr? Sie trat einen Schritt näher. Aber der Kampf ist vorbei.
Vorsichtig kniete sie sich vor ihm auf den Boden und streckte eine Hand nach ihm aus. Der Falke spreizte den gesunden Flügel, Federn raschelten.
Ich tue dir nichts, murmelte sie. Lass mich nur dieses Ding entfernen.
Der Wind schleuderte Eisschauer gegen die Zeltwände. Sie hoffte wirklich, dass der Sturm bald abflaute, sonst würde die Schneedecke am nächsten Morgen so hoch sein, dass sie sich ihren Weg aus dem Zelt freigraben musste.
Amira packte den Pfeil und brach die obere Hälfte ab, dann zog sie das verbleibende Stück Holz aus der Wunde. Der Falke leistete kaum noch Widerstand. Seine Kräfte waren erlahmt, der Blick seiner Pupillen trübte sich. Sacht strich sie ihm über das Gefieder, wagte es aber nicht, den Handschuh abzulegen. Schließlich zog sie sich die Schale mit warmem Wasser heran, die eine der Kammerfrauen auf dem Boden abgestellt hatte und begann, das Blut vom Flügel zu waschen. Als sie die Paste auftrug, die der Heiler ihr gegeben hatte, wehrte sich der Vogel nicht mehr gegen ihre Berührung. Reglos hockte er auf den Fellen.
Amira verband die Wunde und stand wieder auf.
Herrin?, erklang Gudruns Stimme hinter ihr.
Sie hatte nicht gehört, wie ihre Amme das Zelt betrat.
Den Göttern sei Dank, Ihr seid wohlauf. Gudrun huschte näher und griff nach Amiras Hand. Das Gesicht der ältlichen kleinen Frau verzog sich, als sie den Verband bemerkte. Ihr dürft nicht so leichtfertig mit Eurer Gesundheit spielen. Ihr habt eine wichtige Mission zu erfüllen.
Ihr meint, ich setze Arwendales Wohlwollen aufs Spiel, weil die Ware einen Kratzer hat?
Nein! Gudrun blickte bestürzt zu ihr auf. Das dürft Ihr nicht sagen. Es ist eine große Ehre und Euer Vormund will nur das Beste für Euch ...
Natürlich, unterbrach Amira den Wortschwall der Amme. Sie wandte sich ab und betrachtete den Falken. Wie gut, dass es Menschen da draußen gibt, die wissen, was mein Bestes ist.
Ist das der verzauberte Dämon?, wisperte Gudrun.
Glaubst du das wirklich? Amira wusste, dass sie ungerecht war. Die Amme war eine einfache Frau ohne Bildung, die ihr Leben Amiras Wohl geweiht hatte. Dennoch gelang ihr nicht, die Verachtung in ihrem Tonfall zu verbergen. Wenn er ein Dämon wäre, hätte er sich längst befreit und das Lager dem Erdboden gleichgemacht, meinst du nicht?
Er ist prachtvoll. Widerwillige Bewunderung schlich sich in Gudruns Stimme. Vielleicht senden ihn gar die Götter. Euer zukünftiger Herr wird erfreut sein, wenn Ihr ihm dieses Tier darbringt. Es heißt, er sei ein leidenschaftlicher Jäger. Er besitzt die edelsten Falken der Welt. Gudruns Begeisterung ging mit ihr durch. Sicher gelingt es Euch mit diesem Geschenk, seine besondere Gunst zu erlangen. Stellt Euch vor, was Ihr erreichen könntet!
Amira wandte ihren Blick nicht von dem Falken. Gudruns Worte waren wie Nadelstiche. Plötzlich war ihr alle Freude verdorben. Wir werden sehen, flüsterte sie. Und nun geh. Lass mich allein.
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Weitere Leseproben
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