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Ausschnitt aus DIE WINTERJAGD von Bernd Rümmelein
Sibirien im Winter 1287 a. D.
Die Fährte war frisch. Viktor hatte keinen Zweifel daran. Der Geruch des Blutes machte ihn rasend. Immer wieder mahnte sich der erfahrene Jäger zur Ruhe. Gewiss, er war hungrig und im Winter war es in dieser Gegend klirrend kalt. Ein sibirischer Winter. Verlor er die Kontrolle, konnte es mit ihm schnell zu Ende sein. Doch nicht die Kälte bereitete ihm Schwierigkeiten. Sein Körper fühlte sich stets kalt an. Der Hunger war es, den er kaum zu bändigen wusste und der sich zu einer schier unersättlichen Gier steigerte, je länger er Nahrung entbehren musste. Oft kehrte Viktor in dieser Jahreszeit nach erfolgloser Suche unverrichteter Dinge um und kam mit rebellierendem Magen in sein tristes Heim zurück. Danach verschlechterte sich sein Zustand. Er fühlte sich schwach und hatte Mühe, aufzustehen und sich erneut auf die Jagd zu begeben. Dennoch zwang er sich Nacht für Nacht immer wieder dazu. Viktor wollte überleben.
Er hatte sich dieses Leben in der Einsamkeit der Wildnis nicht freiwillig ausgesucht. Die Umstände hatten ihn dazu getrieben. Der Ketzerei angeklagt und einem Bund mit den Dämonen des Teufels beschuldigt, war er wie ein Verbrecher verfolgt und schließlich aus seiner Heimat vertrieben worden. Wäre Viktor geblieben und hätte sich den Vorwürfen gestellt, hätten ihn die Menschen des Dorfes bis aufs Blut gefoltert und schließlich den Flammen des Scheiterhaufens übergeben, wie sie es mit vielen anderen vor ihm getan hatten. Schuldig oder unschuldig. Aber die Menschen hatten noch nie verstanden, was es mit Seinesgleichen auf sich hatte. Sie waren zutiefst misstrauisch und abergläubisch, glaubten an den bösen Blick, an Hexen, Dämonen und Naturgeister. Er war ein Kind der Nacht und als solches in seinem Wesen und den Gewohnheiten unverstanden. Die einfachen Menschen lehnten ab, zerstörten, was sie nicht kannten und bekämpften, was ihnen unheimlich erschien. Verächtlich und furchtsam nannten sie ihn einen Upier, dessen Leib es restlos zu verbrennen galt. Nicht einmal vor der Vernichtung derer, die sie einst geliebt hatten, schreckten sie in ihrem Wahn oder der Angst vor dem Unfassbaren zurück. Dabei war Viktor etwas Besonderes. Gewiss kein Upier, denn er hatte keinen Stachel unter der Zunge. Anders zwar als die Menschen, aber er hätte sich vorstellen können, unter ihnen friedlich zu leben. Er hätte ihnen viel geben können und wäre bereit gewesen, seine Fähigkeiten zu ihrem Nutzen einzusetzen und von ihnen zu lernen, wenn sie ihm denn nur vertraut hätten. Die Ablehnung, Furcht und das Misstrauen waren jedoch mit jedem Tag stärker geworden. Sie hatten ihm einen Mord an einer Magd angelastet, mit dem er nichts zu tun hatte. Nur weil er einmal mit ihr gesprochen und sie schön und anziehend gefunden hatte.
Die Winter in den sibirischen Wäldern waren hart und vor allen Dingen lang. Selten bot sich ihm eine solche Gelegenheit wie in dieser Nacht. Dennoch durfte er die gewohnte Vorsicht nicht außer Acht lassen. Ein verletztes Opfer konnte gefährlich werden. In die Enge getrieben waren sie in der Lage, im Kampf um ihr Leben enorme Kräfte zu entwickeln. Obwohl er sich in den Wäldern bestens auskannte und den Vorteil auf seiner Seite sah, durfte er seine Beute niemals unterschätzen.
Vorsichtig sah sich Viktor um und kniete auf den schneebedeckten Boden nieder, um die Blutstropfen näher zu untersuchen. Er zerrieb einen davon zwischen seinen Fingern. Erst nachdem er ausgiebig daran gerochen hatte, führte er die Finger zu seinen Lippen und begann das Blut zu schmecken.
Eindeutig menschlich, dachte Viktor, und sein Gesichtsausdruck zeigte ein Entzücken, die seine Vorfreude verriet, jung, weiblich, vielleicht achtzehn, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Gesund und … unberührt.
Die Vorstellung, dass sich unweit seines Standorts eine solche Beute befand, machte es ihm umso schwerer, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Er wollte aufspringen, um sofort nach ihr zu suchen.
Gemach ..., zügelte er seine Gefühle, denk nach, Viktor. Ist sie alleine? Wer ist sie? Woher kommt sie? Was sucht eine Jungfrau um diese Zeit in den Wäldern dieser Wildnis?
Viktor richtete sich auf, strengte all seine Sinne an, um mehr aus seiner unmittelbaren Umgebung zu erfahren. Er konnte sie riechen, geradezu körperlich spüren. Ihre Not und die Angst vor dem Tod. Sie musste in der Nähe sein. Eine andere Präsenz neben der ihren nahm er jedoch nicht wahr.
Vielleicht vernebelt der Geruch ihres Blutes meine Sinne. Er ist so stark!, versuchte er sich den gescheiterten Versuch eines weiteren Eindrucks zu erklären.
Viktor folgte den Blutspuren durch den Wald. Irgendwann musste die Frau zu Boden gegangen sein und sich mit den Händen weiter durchs Dickicht gezogen haben, wie er der Fährte entnehmen konnte. Auf einer kleinen Lichtung fand er sie schließlich schwer atmend auf der gefrorenen Erde liegend. Viktor blickte gen Himmel. Es herrschte Halbmond, der sein Licht schwach zwischen die Bäume warf. Die Schatten knorriger, vom Wind bewegter Äste tanzten über den Körper der Frau. Sie veränderten sich und sahen aus, als wollten sie mit spitzen Fingern nach ihr greifen und sie zu sich in die Dunkelheit ziehen. Langsam näherte sich Viktor der Frau. Sie war bei Bewusstsein und fürchtete sich. Das konnte er fühlen. Ihr wunderbarer Duft nach Rosen und einem für ihn undefinierbaren Gewürz aus Nelken, Zimt und Honig vermischte sich mit dem ihres Blutes, stieg ihm in die Nase und raubte ihm beinahe den Verstand. Sie war barfuß. Ihre Füße waren zerschunden, bluteten aus mehreren Risswunden und zeigten an Zehen und Sohlen deutliche Spuren von Erfrierungen. Unter einem grauen, halb geöffneten Wollumhang trug sie ein weißes, an mehreren Stellen zerrissenes und blutbeflecktes Kleid. Ihr langes Haar glänzte pechschwarz im Licht des Halbmondes. Sie zitterte am ganzen Leib, als sich Viktor nach ihr bückte und sie behutsam mit der Hand an der Schulter berührte.
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de Weitere Leseproben
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