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Leseprobe 2 - 5. Ermittlungen
Ravic schlug die Augen auf und wusste sofort, dass eines seiner Kinder tot war. Endgültig tot. Seit Nächten quälten ihn seine neuen Sprösslinge, immer im Hintergrund der Gedanken, wie ein Juckreiz an einer Stelle, an der man sich nicht kratzen konnte. Jetzt war ein weiterer tot und es fühlte sich gut an.
Ravic stieß den Deckel auf und kletterte aus dem Sarg. Die Kiste, gestreift in den Naturfarben von zweierlei Sorten Holz, stand am Fußende des Doppelbetts, ein unschuldiges Ding, nur dazu da, um Kissen und Decken aufzubewahren. Ravic lächelte das Banner an, das er am Kopf des Bettes an die Wand gehängt hatte: »Heute Blutspende«. Allein dafür, dass er jedes Mal wieder darüber lachen konnte, hatte sich der Überfall auf die DRK-Zentrale gelohnt.
Er warf die Türen des Kleiderschranks auf. Seinen guten schwarzen Anzug hatte er in London, aber im altmodischeren Tweed würde er sowieso weniger auffallen. Wenn es nach der geistigen Widerstandskraft eines durchschnittlichen Menschen ging, könnte er auch in Strapsen, Mieder und pinkem Lippenstift auftreten, aber Hypnose war einfacher, wenn er seiner Rolle des trauernden Angehörigen entsprach.
Am Betreuten Wohnen in Regensburg angekommen, nahm Ravic den kürzesten Weg in Traudels Appartement: durch das gekippte Fenster im dritten Stock. Drinnen witterte er sofort, warum die Hausverwaltung auf Dauerdurchzug gestellt hatte. Sie konnten die Gardinen abnehmen, den Teppich austauschen und dosenweise Lufterfrischer versprühen, doch darunter lauerte der Gestank nach verkohltem Fleisch und verbranntem Haar. Hässlich, hässlich.
Kein Polizeiband. Also ließen sie es als natürlichen Tod laufen. Ja, die arme Frau, der Tod kam ganz plötzlich. Sie wirkte noch so fit, aber in ihrem Alter, da steckt man nicht drin.
Wo hatte Traudel eigentlich ihren Sarg versteckt in den vergangenen Tagen? Vielleicht hatte sie auch gar keinen gehabt eine Weile kam ein Vampir ohne aus, auch wenn es sehr schmerzhaft war und den Hunger anstachelte.
Ravic scannte kurz die beiden Zimmer mit den altmodischen, dunklen Möbeln, den Flur mit den Enkelfotos an den Wänden, die Küche, wo im Brotkasten eine Kruste verschimmelte, das Bad. Kein Hinweis auf No Pflock, aber das mochte nichts heißen. Sie hinterließen zwar gelegentlich ihr Zeichen, aber nie bei ihren Opfern dafür wussten sie wohl zu gut, wie mächtig ihre Gegner waren. Wieder ein Fehlschlag?
Einen Moment blieb Ravic vor einem der Fotos stehen, das eine zierliche Dame zeigte. Sie trug einen Blumenhut, unter dem ein paar weiße Haarsträhnen hervorlugten, zart wie Löwenzahnflaum. Sie starrte in die Kamera, als sei fotografiert zu werden eine weitere Schlacht, die es zu schlagen galt. Traudel, altes Mädchen, so hattest du dir deine letzten Tage auf Erden wahrscheinlich nicht vorgestellt, was? Oh, ihre Gedanken waren in seinen Kopf eingefallen wie ein Schwarm Wespen. Und genauso hatte sie unter ihren Feinden gewütet: Die Frau von der Tafel, die immer das Essen kalt werden ließ. Der Nachbar, der so laut Rotz herum spuckte, dass man es durch alle Wände hören konnte. Die Tratschtante vom Kartenclub, die beim Rommee schummelte. Traudel hatte sich nicht lange mit Hadern aufgehalten Kriegsgeneration vom feinsten , sondern sich sofort ins Vampirdasein gestürzt. Mit gerade mal sechs Nächten hatte sie wahrscheinlich einen Rekord aufgestellt für die kürzeste Lebensdauer als Unsterbliche. Die Frage blieb: Hatte No Pflock sie vernichtet oder doch nur der Ältestenrat?
Die Wohnungstür war abgeschlossen, doch sie leistete wenig Widerstand, als Ravic an ihr zog. Er nahm den Fahrstuhl und die Abkürzung durch den Innenhof, um zum Empfang des benachbarten Pflegeheims zu gelangen eine kleine Erholung für seine Nase, bevor sie wieder Desinfektionsmittel, nasse Windeln und Infusionsbeutel umwehten. Die Nachtschwester hinter der Theke im zeitlosen Fake-Marmor-Look blickte von ihrer Lektüre auf. »Frieden schließen mit Demenz«, da nahm jemand seinen Job richtig ernst. Sie runzelte die Stirn. »Wo kemman Sie denn grad her?«
»Griaß Gott, entschuldigen S, i hab grad erst ghört, dass mei Oma gstorbn is, d Neubauer Traudl, wissen S...« Mei, immer wieder eine Freude, sich so den Mund zu verrenken. Aber schau, wie der arme Enkel ganz verstört durchs Haus irrt.
Wie viele Menschen in sozialen Berufen, die noch nicht völlig abgestumpft waren, hatte Schwester Hanna Tür und Tor zu ihrem Geist weit geöffnet und den Weg mit Leuchtpfeilen ausgeschildert. Keine drei Minuten später saß Ravic mit einer Tasse Kaffee in einem Ohrensessel vor einem kalten Bullerofen, der die Alten an das Wohnzimmer ihrer Kindheit erinnern sollte. Die gurrende Nachtschwester stellte einen Spender mit Taschentüchern auf den Tisch und streichelte seinen Arm. Doch die einzige nützliche Information, die sie liefern konnte, war, dass Traudel schon während der Morgenschicht gestorben und kein Zeuge der Ereignisse mehr im Haus war.
»I wohn so weit weg«, stotterte der Enkel und vergrub das Gesicht in den Händen. »I hab s' seit Ewigkeiten nimma gsehn. Wia is ihr ganga?«
Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt ins Schwesternzimmer. Zehn Pflegekräfte flatterten ständig zur Tür rein und wieder raus. Aber immer drei oder vier versuchten, Ravic zu erzählen, was für ein Herzchen Traudel gewesen sei, ohne allzu rot zu werden beim Lügen. Gott, zum Glück ist die kein Pflegefall geworden, las er im Kopf eines Mannes, der der Alten in einer endlosen halben Stunde ihre Balkonpflanzen hatte umstellen müssen. Doch es war mehr als die Tatsache, dass sie ein herrisches Biest gewesen war. Irgendwas war seltsam gewesen in der vergangenen Woche. Immer die Rollläden zu. Und dann die plötzlichen Todesfälle, über die die Pflegekräfte nicht sprachen, nicht mal untereinander.
Als das Mädchen mit den Rehaugen und den am Hinterkopf zusammengedrehten, blonden Zöpfen zur Tür hereinkam, fuhr Ravic auf.
»Hinaus!«, zischte er die anderen an, während er die junge Frau mit dem Blick festhielt. »Ein Notfall in Zimmer dreiundzwanzig. Los!«
Sie stürzten auf den Flur. Ihre Kollegin schloss die Tür, ohne auch nur hinzusehen. Ihre Lippen öffneten und schlossen sich stumm.
Ravic trat näher und schnupperte. Ja, er hatte recht gehabt: Die hier gehörte Liza. Es war nicht unmöglich, in die Gedanken eines Menschen einzudringen, der an einen anderen Vampir blutgebunden war. Doch es rief mit Sicherheit die Meisterin auf den Plan. »Was ist wirklich mit Traudel Neubauer passiert?«, fragte er.
Es überraschte ihn, dass sie bereitwillig antwortete. »Sie hat zu viel Aufmerksamkeit erregt. Unsere Leute haben sie der Sonne ausgesetzt.« Ihr schauderte. »Bin ich froh, dass ich keine Schicht hatte. Der Sohn kommt morgen. Der Bestatter zeigt ihm die Urne und bespricht die Details der Beisetzung. Im Testament wird stehen, dass sie eingeäschert werden wollte. Es ging nur ... ein wenig schneller.«
Ravic spürte keinen Sarkasmus, nur einen Hauch Melancholie, gemischt mit Erleichterung, dieses Monster losgeworden zu sein. Und keine Spur von Angst. »Wer sind unsere Leute?«
»Die Leute meiner Herrin und ihres Herrn. Ich arbeite seit einem halben Jahr hier, sie sind gestern hierher versetzt worden aus einer anderen Einrichtung. Nur kurz, als Krankheitsvertretung.«
Wie immer perfekt eingefädelt. Ravic schürzte die Lippen. Also definitiv ein Fehlschlag. Der Ältestenrat war schneller gewesen.
Er ertappte sich dabei, dass er mit den Blicken das zarte Pochen der Schlagader an diesem schmalen, weißen Hals verfolgte. Das Einbrechen und die Hypnose hatten ihn Energie gekostet. Nicht hier, ermahnte er sich. Das Experiment ist das eine. Vincenzo direkt an den Karren zu fahren, ist was ganz anderes. Wer weiß, wofür ich seine Stimme nochmal brauchen kann. Außerdem lief das gerade ein bisschen zu glatt.
»Danke«, sagte er. Die Schwester zuckte mit den Schultern und wich aus, als er an ihr vorbeiging.
Diesmal verließ Ravic das Gebäude durch den Haupteingang. Er blieb am oberen Ende der Rollstuhlrampe stehen. Ja, da waren sie. Vielleicht hatten sie schon den ganzen Abend hier gelauert. Aber es gab keinen, weder lebend noch untot, der wusste, dass er sich auf andere Art Zutritt zu Traudels Wohnung verschaffen konnte. Selbst wenn sie es ahnten, wussten sie nicht, wie.
Die drei Vampire kamen langsam den beleuchteten Weg entlang. Vorn ging eine Frau, die ihre breiten Schultern unter einer wilden Mähne blondierter Haare zu verstecken versuchte. Ihre High Heels klapperten auf den Pflastersteinen. Ihre Begleiter blieben einen Schritt zurück, flankierten sie rechts und links. Ein Bodybuilder-Verschnitt und ein kleinerer, sehniger Typ, beide mit den gleichen militärisch geschorenen Schädeln, auf die die Zweige der Allee Schattenmuster malten. Kinder, alle drei, kaum ein halbes Jahrhundert alt und aus keiner der alten Blutlinien. Ravic verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und sah, wie die beiden Kerle zuckten. Er lächelte. Jetzt muss nur noch einer auf der Mundharmonika Spiel mir das Lied vom Tod blasen.
Sie blieben ein Stück vom Fuß der Treppe entfernt stehen. Die Anführerin leckte sich über ihre roten Lippen.
»Wo ist mein Pferd?«, fragte Ravic, als sie gerade den Mund aufmachen wollte.
»W... Was?« Sie straffte sich. »Sehr witzig.«
Ravic seufzte. Keine Ahnung von Filmklassikern. Liza hätte die Anspielung wenigstens zu schätzen gewusst.
»Ravic, der Ältestenrat bittet dich um ein Gespräch. Wir haben ein Auto hier. Wenn du uns folgen möchtest?« Die Blonde machte eine steife Handbewegung in Richtung Straße, wo ein dunkler Wagen stand.
»So, so, er bittet. Deswegen schickt er gleich drei Handlanger und nicht mal eine Limousine. Und kein Wort der Entschuldigung für das, was sie meinem alten Mädchen da drin angetan haben.« Die großen Fünf sind also richtig nervös, mittlerweile. Nur meinetwegen?
Die Vampirin bleckte die Zähne. »Das dumme Ding hat unsere Sicherheit gefährdet. Das muss dir doch klar sein! Warum hast du ...«
Ravic hob eine Hand und sie verstummte sofort. »Tststs, willst du die ... Ältesten um den Spaß bringen, mir ihre Strafpredigt persönlich zu halten?« Er ging die Treppe hinunter und die drei wichen zurück. Sie zeigt wenigstens noch ein bisschen Temperament. Aber warum wählt jemand die Unsterblichkeit, nur um dann den dummen Gorilla zu spielen? Er musterte die ausdruckslosen Gesichter der beiden Männer. Vielleicht hat ihr Meister sie genau deswegen ausgesucht. Weil sie nicht denken. Mal sehen, ob das auch die nächsten Jahrzehnte noch so bleibt.
»Schöne Grüße an Seppel, aber ich habe dringende Termine. Und ich bin in Trauer.« Ravic grinste.
Meister Proper griff nach seinem Oberarm, als er an ihnen vorbeiging. Ravic machte sich nicht einmal die Mühe, ihm die Finger aufzubiegen. Er schaute auf die Hand hinunter, dann in das Gesicht des Grünschnabels. Er hob die Augenbrauen.
»Lass ihn los, Idiot!«, zischte die Blonde.
Der Vampir ließ seinen Arm sinken. Ravic tippte sich an die nicht vorhandene Hutkrempe und setzte seinen Weg fort. »Kommt nicht auf die Idee, mir zu folgen«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Erst, als er außer Sichtweite war, legte er an Tempo zu.
Ein Nieselregen wehte ihm in die Augen, als er die Straße entlang Richtung Innenstadt spurtete. Eigentlich hatte er den Winter in seinem Haus auf Sizilien verbringen wollen. Aber so lange konnte er die Entwicklungen hier in Bayern nicht aus den Augen lassen. Vielleicht war wenigstens eines seiner Experimente erfolgreich. Immerhin waren noch vier von zehn übrig.
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