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Leseprobe 2
Dhelia
Donnerstag, 8. Januar
Es war wie immer nervtötend laut in der Cafeteria. Dummerweise gab es im Januar keinen anderen Ort, an dem man seine Pause verbringen konnte, wenn man sie nicht mit sportlichen Aktivitäten verbrachte. Alex verbrachte selbst bei klirrender Kälte die Pausen auf dem Hof und spielte mit einigen Kumpels Fußball. Außer ihnen hielten es nur die Raucher draußen aus. Da weder das eine noch das andere irgendeinen Reiz auf mich ausübte, versuchte ich mal wieder, den Lärmpegel meiner Mitschüler zu verdrängen und mich mit Charles Dickens ins viktorianische England zu verziehen.
Helles Lachen ließ mich einen Moment innehalten. Dagnys Stimme tat das irgendwie immer, so als erwartete ich, dass sie nach mir rufen würde. Aber den Versuch, mich in ihre Clique zu integrieren, hatte sie Gott sei Dank endlich aufgegeben. Es hatte auch nur fast fünf Jahre gedauert. Sicher, ihre Freunde waren ganz nett. Aber ich schüttelte mich bei dem Gedanken daran, die ganze Zeit inmitten so vieler Menschen zu verbringen. Ich war mir nicht sicher, ob es daran lag, dass ich die Kala-Schwester war - diejenige, die die Dunkelheit repräsentierte - und ich deshalb die Fähigkeit entwickelt hatte, mich vor anderen zu verbergen, oder ob diese Fähigkeit erst dazu geführt hatte, dass ich lieber für mich war. Nicht dass ich mich unsichtbar machen konnte, leider, aber ich konnte dafür sorgen, dass die Leute mich ignorierten. Ich glaube, ich war etwa dreizehn gewesen, als sich die Fähigkeit bei mir entwickelt hatte. Oma hatte es mir erklärt. Und so sehr ich mir auch gewünscht hatte, ganz unsichtbar werden zu können, stellte ich doch fest, dass anwesend zu sein ohne bemerkt zu werden seinen Reiz hatte.
Ein kurzer Blick auf die große Uhr über der Eingangstür ließ mich seufzen. Die Hälfte der Pause war schon vorbei. Vier Schulstunden lagen hinter und zwei weitere vor mir und mein erster Schultag nach den Ferien wäre endlich vorbei. Ich werde nie verstehen, wieso man die Schule mitten in der Woche wieder anfangen lässt, anstatt die Ferien einfach bis zum Wochenende zu verlängern. Sicher wären auch die meisten Lehrer dafür gewesen. Stattdessen hatte ich die letzten vier Stunden damit zugebracht mir anzuhören, auf welche mehr oder weniger - hauptsächlich weniger - interessante Art und Weise meine Mitschüler die Ferien verbracht hatten. Nun gut, eigentlich habe ich die Zeit damit verbracht aus dem Fenster zu sehen und auf das Klingeln zu warten. Oma wäre wohl alles andere als begeistert gewesen, wenn sie davon gewusst hätte. Auf der anderen Seite sagt sie mir ja immer wieder ich solle mich mehr auf meine Fähigkeiten konzentrieren und lernen sie zu meistern. Das Schicksal wird sich schon etwas dabei gedacht haben, mir die Fähigkeit zu geben, mich nahezu unsichtbar zu machen. Und wo sollte ich diese besser lernen als in der Gesellschaft von möglichst vielen Menschen? Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich tiefer im Stuhl nach unten rutschte und mich wieder auf David Copperfield konzentrierte.
Das plötzliche Schaben von Stuhlbeinen auf dem Linoleumboden kam genau von der anderen Seite des kleinen Tisches, an dem ich saß. Wer auch immer den Stuhl zurückzog und sich auf ihm niederließ, bewegte sich erstaunlich leise. Kein atemloses Lachen, kein Quietschen von nassen Turnschuhen und erschöpftes Auf-denStuhl-fallen-lassen von Alex. Doch der wäre der Einzige gewesen, der sich zu mir an den Tisch verirrt hätte.
»Mutprobe oder verlorene Wette?«
»Ich bin mir nicht sicher, was du meinst.«
Nur mit viel Mühe konnte ich ein Augenrollen zurückhalten. Die Stimme klang tief und warm. Niemand aus meiner Klasse hörte sich so an, wohl ein Neuer. Seufzend hob ich meine linke Hand und zeigte mit dem Daumen nach hinten.
»Du hast die falsche Schwester erwischt. Du meinst die blonde Blauäugige, die drei Tische weiter hinten sitzt.« Irgendwie schaffte ich es tatsächlich, weiterzulesen. Zumindest so lange, bis mein Gegenüber anfing zu lachen.
»Ich weiß genau, welcher Zwilling vor mir sitzt. Ich hab' lange davon geträumt dich zu treffen, Dhelia Ritter.«
Einen Moment lang saß ich da, wie erstarrt. Es kam mir vor als geschähe auf einmal alles in Zeitlupe. Das Buch sank in meinen Händen und ich blickte zu dem Jungen, der mir gegenüber Platz genommen hatte, auf. Das Erste, was ich sah, waren seine schwarzen Klamotten. Er sah aus wie ein Goth oder ein Möchtegern-Rocker. Seine blasse Haut und die langen schwarzen Haare, noch länger als meine eigenen, ließen mich eher zu Ersterem tendieren. Er trug eine Kette um seinen Hals. Ein schwarzes Lederband, an dem einige Glieder einer großen Kette hingen. Allerdings waren keine Tätowierungen oder Piercings zu sehen, aber auch kein weiterer Schmuck oder dunkles Make-up. Also vielleicht weder Goth noch Rocker?
Ich runzelte die Stirn, als sein Grinsen breiter wurde, beide Mundwinkel weit nach oben gezogen. Seine Lippen wirkten hart und seine Augen
Das waren keine Menschenaugen.
»Um Himmels willen!« Zum ersten Mal in meinem Leben kümmerte es mich nicht, dass sich die Leute in meiner Nähe zu mir umdrehten. Was waren schon die Blicke der anderen, wenn ich mich einem Uchawi gegenübersah? Und dummerweise keinem der guten Prakasa, sondern einem Paracha'i. Kurz war es still um uns herum, doch das Interesse an den Nachbartischen ließ schnell nach und nur noch vereinzelt traf ich auf skeptische Blicke, als ich mich umsah. Einen Tisch weiter sahen mich zwei Mädchen kopfschüttelnd an und flüsterten hinter vorgehaltener Hand, ehe sie kicherten. Ich versuchte sie zu ignorieren und wandte mich dem Uchawi zu.
»Was willst du hier?« Ich hatte vorgehabt meiner Stimme Autorität zu verleihen, doch sie klang nur wütend - und vielleicht ein kleines bisschen ängstlich.
»Du musst keine Angst vor mir haben.«
Oma hatte uns noch nicht allzu viel über die Uchawi gelehrt und sie hatte bisher nicht erwähnt, dass sie gute Schauspieler sind. Denn ich hätte schwören können, dass er verletzt aussah.
»Mein Name ist Morpheus. Mo. Ich bin ein Sapana. Das ist
«
»Ich weiß genau, was du bist!« Ich sah keinen Grund, ihn ausreden zu lassen. Was für einen Unterschied machte es schon, was genau er war. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. Wer wusste schon, ob die Anschuldigungen in Ikattha nicht doch ihren wahren Kern hatten? Hastig schob ich mein Buch in meine Schultasche und schwang sie mir über die Schulter, bevor ich meine Jacke von der Rückenlehne riss. »Du wirst sofort hier verschwinden. Ich lasse nicht zu, dass du hier irgendjemandem etwas antust!«
Die Wahrheit war, ich konnte gar nichts tun. Dagny war die Kämpferin von uns beiden. Sie war diejenige, deren Kräfte aktiv waren oder es zumindest sein sollten. Ich war passiv. Ich konnte nur abhauen, mich verstecken und hoffen, dass er ging.

Hoffnung ist eine verdammt trügerische Sache. Das musste ich in der fünften Stunde feststellen. Ich saß an meinem gewohnten Platz am Fenster in der ersten Reihe. Jahre der selbst auferlegten Abgrenzung von meinen Mitschülern hatten mich gelehrt, dass es eben nicht die letzte Reihe war, in der man die meiste Ruhe vor allen hatte. Meine Gedanken kreisten noch um den Paracha'i und ich konnte geradezu fühlen, wie Dagny mich anstarrte und darauf wartete, dass ich mich zu ihr umdrehte. Das kleine Spektakel war ihr also auch nicht entgangen. Wunderbar. Wenn sie erfahren würde, dass ein Parachai an unserer Schule war, würde sie sich nur unnötige Sorgen machen. Nein, ich würde allein mit ihm fertig werden. Immerhin gehörte er der Dunkelheit an. Das machte ihn zu meinem Problem. Ich seufzte und sah aus dem Fenster als Herr Peters dem Beispiel seiner Kollegen folgte. Man sollte doch wirklich glauben, dass man in der zwölften Klasse Besseres zu tun hatte, als über seine Weihnachtsferien zu reden.
Als sich die Tür zum Klassenraum öffnete, hätte ich allerdings liebend gern noch fünf Tage lang zugehört, wer wo was gemacht hatte, wenn ich dafür auf den Neuankömmling hätte verzichten können. Der Paracha'i war nicht verschwunden. Im Gegenteil, er ging zu Herrn Peters' Pult und gab ihm einen Zettel. Nein. Nein, das war gar nicht gut. Und es wurde noch schlimmer. Herr Peters nickte und sagte ihm, er solle sich setzen. Ich war froh, dass der Platz neben mir bereits besetzt war. Die Wand neben der Tafel erhielt meine ganze Aufmerksamkeit, als der Paracha'i seinen Weg an meinem Platz vorbei machte und drei Tische weiter hinten Platz nahm.
Was sollte das? Was tat er hier? Verfolgte er mich? Ich erinnerte mich an seine Worte in der Cafeteria, dass er lange davon geträumt hätte, mich zu treffen. Mich. Er hatte explizit meinen Namen genannt. Ikattha mochte mich für das dunkelste Lebewesen auf Erden halten, aber egal, was der Parachai vorhatte, egal, weswegen er hier war, ich würde keinen Anteil an seinen finsteren Machenschaften haben. Was auch immer er versuchen würde, er würde mich nicht auf seine Seite ziehen.
Noch immer spürte ich Dagnys Augen in meinen Rücken und ich gab mein Bestes, um von allen ignoriert zu werden. Jetzt musste ich es nur noch schaffen, vor Dagny aus der Klasse zu stürmen und am Parkplatz sein. Sie hatte nach der Schule Karate und konnte es sich nicht leisten, den Umweg über den Parkplatz zu nehmen.

Immerhin war noch auf eines Verlass: die Pünktlichkeitsliebe meiner Schwester. Wie ich gehofft hatte, zog sie es vor rechtzeitig in ihrem Karatekurs zu erscheinen, anstatt mich mit Fragen zu löchern, die ich nicht beantworten wollte. Man hätte vielleicht sagen können, ich wollte ihr aus dem Weg gehen, wobei ich das für eine Übertreibung gehalten hätte.
Alex war da anderer Ansicht und brachte das auch deutlich zum Ausdruck, als er mir die Tür auf der Beifahrerseite seines Wagens öffnete. »Also, spuck's aus«, sagte er, als ich mich neben ihm auf dem Sitz niederließ.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« Ich wich seinem fragenden Blick aus. Selbst als ich den CD-Player anstellte und Queen das Innere des Autos beschallte, ließ er sich nicht ablenken. Normalerweise hätte er spätestens jetzt anfangen müssen lauthals mitzusingen und sein Lenkrad mit seinem Schlagzeug zu verwechseln. Stattdessen spürte ich, wie er mich weiterhin mit seinem Blick durchlöcherte. Seufzend gab ich schließlich nach.
»Ich will einfach momentan nicht mit Dagny reden.«
»Wegen dem Neuen? Hast du dich mit ihm verabredet und jetzt Angst davor, dass Dagny dir Tipps geben will, Umstyling inklusive? Dieser eine Rock von ihr, du weißt schon, knielang und rosa, würde dir sicher gut stehen.«
»Mit so einem würde ich nie im Leben ausgehen!« Vielleicht war meine Reaktion ein ganz kleines bisschen übertrieben, komplett mit dem dazugehörigen entsetzten Gesichtsausdruck, als ich nun doch Alex anblickte. Aber wirklich nur ein bisschen übertrieben. Er hatte schließlich keine Ahnung, wer, oder besser gesagt was unser neuer Mitschüler war. Auch wenn Alex wusste, dass es Uchawi gab, versuchten wir ihn doch so weit wie möglich aus all dem herauszuhalten. Er hatte uns, als wir zwölf waren, einmal im Garten überrascht, als Dagny verzweifelt versucht hatte, ihre Kräfte anzuwenden. Oma hatte uns daraufhin eine lange Predigt darüber gehalten, welcher Gefahr ein normaler Mensch ausgesetzt war, wenn er sich mit dem Übernatürlichen befasste.
Alex sah schweigend nach vorne auf die Straße und nickte nur. Als wir einen Moment später an einer roten Ampel anhalten mussten, sah er mich aus den Augenwinkeln an.
»Hat es was mit diesen Uchawi zu tun?«
Ich musste schon wieder seufzen. Wenn ich nicht aufpasste, wurde das noch zu einer äußerst nervigen Angewohnheit. So etwas, wie Dagnys Sucht nach Kaffee oder ständiger Bewegung. Dummerweise hatte Alex ein ziemlich gutes Gespür dafür, wann es um dieses ihm kaum bekannte Thema ging.
»Das deute ich mal als ein Ja. Muss ich mir Sorgen machen?«
Der Weg von der Schule nach Hause dauerte mit dem Wagen etwa fünfzehn Minuten. Heute kam er mir aber viel länger vor.
»Nein, musst du nicht. Ich hab alles im Griff.« Zumindest würde ich alles im Griff haben, sobald ich herausgefunden hatte, wie man den Paracha'i loswurde. So schwer konnte das doch sicherlich nicht sein.
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