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Verhörraum 13
Christian Vajda
Verhörraum 13
Dunkle Wolken lagen über London.
Der schwere Regen hatte die engen Gassen vom Nebel befreit und gewährte nun einen Blick in die finstere Nacht.
Während die Straßen menschenleer waren, herrschte im Polizeihauptquartier reges Treiben.
Die dunklen Seiten der Menschen bekamen durch diesen Ort ein Gesicht, trafen doch tagtäglich neue Verbrecher ein, um hier ihre Aussagen zu machen.
Auch für Inspektor Nathan Dorian war wieder der Zeitpunkt gekommen, sich mit der Schattenseite des menschlichen Daseins zu befassen, denn ein neuer Fall erwartete ihn im Verhörraum 13.
Er blätterte noch einmal schnell in der Akte des Falles.
Der Name des Verdächtigen war Oscar Gray - diesen Namen hatte er zumindest angegeben - und genauere Untersuchungen über ihn waren gerade erst im Gange. Nähere Details würde der Inspektor erst im Laufe der Nacht erhalten.
Dieser Oscar Gray sollte einen bislang noch unidentifizierten Mann eiskalt ermordet haben und konnte durch Zeugenaussagen nur wenige Stunden nach der Tat festgenommen werden.
Er hatte kaum Habseligkeiten bei sich. Keinen Ausweis, keine Papiere. Nichts außer dem Anzug, den er trug, und einer silbernen Armbanduhr. Nichts weiter.
Obwohl Dorian seit langem ein Profi in diesem Geschäft war, er hatte in seiner Karriere schon den einen oder anderen mysteriösen Fall erlebt, überkam ihn beim Lesen dieses Tatberichtes ein merkwürdiges, fast schon unheimliches Gefühl.
Gray hatte den Mann mit einem Messer getötet und war dabei ohne Skrupel und Mitgefühl vorgegangen, hatte sich jedoch auch nicht sonderlich bemüht, die Tat zu verheimlichen. Er tötete den Mann in der Nähe eines belebten Platzes, wischte nicht einmal die Fingerabdrücke auf der Waffe ab und ließ diese noch dazu am Tatort liegen.
Der Inspektor schloss die Akte und nahm sie in seine rechte Hand.
Dann ergriff er den Knauf der Tür, die in den Verhörraum 13 führte, atmete noch einmal tief durch und öffnete sie schließlich. Hinter einem hölzernen Tisch erblickte er die Gestalt des Oscar Gray.
Dorian war überrascht, er hatte sich den Verdächtigen anders vorgestellt.
Die Person, die vor ihm saß, sah überhaupt nicht wie ein Monster aus, sondern erschien ihm völlig harmlos. Gray trug einen grauen Anzug. Das Jackett war zugeknöpft und auf seinen Schultern ruhte das lange schwarze Haar. Er hatte ein angenehmes Gesicht und schien Anfang dreißig zu sein.
Der Inspektor selbst wirkte auf den ersten Anschein viel bedrohlicher.
Gray lächelte, als er ihn erblickte. Er machte eine Handbewegung und bot Dorian an, sich zu setzen.
Der Inspektor war dermaßen überrumpelt, dass er der Aufforderung ohne weiteres folgte.
Mister Gray, sagte er nun mit ernster Stimme.
Gray nickte.
Sie wissen, was Ihnen vorgeworfen wird?
Er nickte wieder.
Haben Sie bereits einen Anwalt benachrichtigt oder sollen wir Ihnen einen stellen?
Ich brauche keinen, danke.
In diesem Moment vernahm Dorian die Stimme Oscar Grays zum ersten Mal. Sie war sanft, klang fast melodisch und konnte einen in ihren Bann ziehen.
Haben Sie sich das genau überlegt?
Er nickte wiederum.
Gut, dann beginnen wir mit der Untersuchung. Wir konnten den Mann, der getötet wurde, noch nicht identifizieren. Kennen Sie seinen Namen?
Nein. Ich kenne ihn nicht.
Der Inspektor erhob seinen Blick und streifte kurz die Augen Grays. Sie wirkten kalt.
Was Ihre Person angeht, haben wir auch noch keine Hinweise gefunden. Leben Sie in London?
Gray schüttelte seinen Kopf: Nein, aber ich habe hier vor einiger Zeit einmal ein Haus besessen und hier gelebt. Sogar in diesem Stadtteil.
Ihr Geburtstag?
Der 31. August.
Dorian fixierte mit seinem Blick seinen Notizblock.
Und das Jahr?
54.
Dorian hob seinen Kopf und seine Verwunderung spiegelte sich in seinem Gesicht.
Ich muss sagen, Sie überraschen mich. Ich hätte Sie um die dreißig geschätzt.
Gray schmunzelte.
Danke, ich weiß, ich sehe noch ganz gut aus für mein Alter.
Ihr Geburtsort?
London.
Ausweis haben Sie auch keinen bei sich.
Nein, leider.
Gut. Sollen wir jemanden für Sie benachrichtigen? Familie?
Zum ersten Mal, seit der Inspektor den Raum betreten hatte, legte sich ein dunkler Schatten auf Grays Gesicht.
Nein, meine Lieben sind schon vor langer Zeit gestorben. Es gibt niemanden.
Mein Beileid, sagte Dorian mit leiser Stimme.
Gray nickte.
Gut, die weiteren Unterlagen bezüglich Ihrer Identität werden gerade herausgesucht.
Meinen Sie, dass ich lange hierbleiben muss?
Sollten Sie unschuldig sein, sind Sie bald in Freiheit. Allerdings muss ich dazu sagen, dass es nicht gut für Sie aussieht.
Der Inspektor machte eine Pause und schrieb einige weitere Notizen auf seinen Block. Der Kaffee, der vor dem Verhör bereitgestellt worden war, dampfte leise vor sich hin und es herrschte Stille im Raum.
Gray unterbrach sie nach einigen Sekunden.
Darf ich Sie etwas fragen, Inspektor? Es ist nur eine Definitionsfrage.
Bitte. Dorian erhob seinen Blick in Grays Richtung.
Was verstehen Sie unter Freiheit?
Der Inspektor schmunzelte: Die Fähigkeit, das zu machen, was man will.
Aha. Gray nickte.
Und was verstehen Sie unter Identität? Ich kann meine eigene nicht definieren.
Bitte?
Ich meine, was macht Sie aus, was bestimmt, wer Sie sind?
Ich verstehe die Frage nicht ganz. Ich bin Nathan Dorian. Das ist mein Name. Der gleiche, der auch in meinem Pass und in meinem Führerschein steht.
Und was sagt das über Sie aus? Wie sind Sie definiert? Durch Ihren Namen?
Ja, mitunter.
Und durch was noch?
Dorian blickte nachdenklich drein.
Durch den Umgang mit meinen Mitmenschen zum Beispiel.
Etwas blitzte in Grays Augen.
Das heißt also, Sie sind durch die Grenzen zu anderen definiert? Sie können sich nur so weit entwickeln, wie Ihnen andere Platz dazu lassen?
Ja, sicher.
Das heißt also, dass Sie durch andere eingeengt werden. Oder?
Nun schmunzelte der Inspektor: Sie meinen also, dass mir die Freiheit fehlt zu expandieren. Mein eigenes Spektrum zu erweitern.
Genau, wäre es ohne Grenzen nicht einfacher?
Mag sein, aber ich denke, dass wir die Grenzen bewusst ziehen, um uns selbst zu definieren.
Aber ist das keine Verschwendung?
Vielleicht. Dorian blickte nachdenklich vor sich hin. Aber Sie sagten, Sie können sich selbst nicht definieren?
Ja.
Heißt das, Sie sind frei?
Genau. Und zwar das zu tun, was ich will.
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