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aus „Der Schneekönig“ von Astrid Martini
Am nächsten Tag gelang es Amelie nicht, des Schneekönigs Wege zu kreuzen. Selbst mit Unterstützung der Schneekönigin waren alle Versuche aussichtslos. Er schien ihr bewusst aus dem Weg zu gehen, aus welchen Gründen auch immer. Auf diese Weise zerrann unter ihren Händen kostbare Zeit. Am Ende des zweiten Tages konnte sie nicht glauben, das auch dieser Tag schon wieder verstrichen war und fortan nur noch vier Tage blieben.
Trotz fortgeschrittener Stunde brannten überall im Schloss Lampen. Draußen war der Himmel über und über mit Nordlichtern besprenkelt. Amelie saß vor dem Frisierspiegel, kämmte ihr Haar. Hatte sie vor ein paar Minuten noch vorgehabt zu Bett zu gehen, so überlegte sie es sich nun anders. Sie würde noch eine Runde durch das Schloss spazieren. Wer weiß, vielleicht begegnete sie dem Schneekönig ja doch noch, der wie vom Erdboden verschluckt schien.
Als sie ihr Zimmer verlassen hatte und an der breiten Treppe ankam, die in den Haupttrakt hinabführte, sah sie Simon. Er stand auf der untersten Stufe, bei ihm drei Schönheiten, die um seine Gunst buhlten.
Die schwarzbraune Seide, in die er gekleidet war, schimmerte bei jeder Bewegung, und die Ärmel und der Kragen waren mit einem feinen Pelz besetzt aber er selbst sah erbärmlich aus. Sein Haar war zerzaust, und mit einer Flasche Rum in der Hand lallte er unverständliches Zeug. Seine Hände zitterten so sehr, dass die Flüssigkeit aus der Flasche schwappte und über seine Hand rann. Er leckte sie gierig ab, um ja keinen Tropfen zu verlieren. Sein Blick war wirr, er wusste offenbar nicht, wo er sich befand, noch mit wem er es zu tun hatte. Amelie erschrak wegen seiner bleichen, eingefallenen Wangen und seiner deutlich ausgemergelten Gestalt. Selbst im trüben Halblicht war zu erkennen, wie verwüstet sein Körper war, und als er davonstolperte wie ein alter Mann, unterdrückte sie ein aufkommendes Schluchzen. Ihr Bruder schien körperlich und auch mental förmlich zu zerfallen und sie war hilflos.
Das heißt, es gab da schon etwas, was sie tun konnte. Nur leider hatte sich der nötige Hauptakteuer aus dem Staub gemacht!
Orientierungslos und innerlich zu aufgewühlt, um sich Gedanken zu machen, streifte sie durch das Schloss. Es ging Treppen hinauf und Treppen hinunter, auf und ab, bis sie sich schließlich im Garten wiederfand.
Die nächtliche Kälte spürte sie nicht. Sie war innerlich wie tot, fühlte sich hilflos und gelähmt. Ihre Füße steckten bis zum Knöchel im Schnee. Feste Schuhe trug sie nicht, schließlich hatte sie vorgehabt, sich nur in den Räumlichkeiten des Schlosses aufzuhalten. Doch das war ihr egal. Ohne nachzudenken folgte sie einem Weg, lief durch eine labyrinthartig angelegte Eislandschaft, in der sie sich nicht einmal mit einem Plan zurechtgefunden hätte.
Die zwei Monde waren über ihren höchsten Punkt hinausgewandert und standen hinter dem Schloss. Ihr Licht fiel in die Mulden vor den Eishügeln und brach sich dort. Der gesamte Ort gewann durch dieses schräg einfallende Licht eine verwirrende Unwirklichkeit, wie sie manchmal auf alten Gemälden zu finden ist.
Müde vom Herumirren, bar jedes anderen Gefühls, ließ sie sich auf einem dicken Marmorstein nieder, der sich am Rande eines Sees befand. Ihre Körpertemperatur war schon so weit gefallen, dass sie keine Kälte mehr empfand. Stattdessen nur diese bleierne Müdigkeit, die ihre gnädigen Arme um sie legte.
Simons Gesicht tauchte noch einmal vor ihrem inneren Auge auf, kurz bevor sie sich endgültig dieser wohltuenden Schwärze hingeben wollte. Und mit einem Schlag war sie wieder hellwach.
Sie sprang auf, blickte sich suchend um, versuchte sich am Licht der Doppelmonde zu orientieren, was unter den gegebenen Umständen gar nicht so einfach war. Auf der Suche nach dem Weg zum Schloss irrte sie umher. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie wieder dieses Wispern, das sie schon auf dem Weg zur Zauberin Walburga vernommen hatte.
Die Eule, schoss es ihr durch den Kopf. Die weiße Eule. Und sie griff suchend in die Tasche ihrer Hose, denn die Glücksfeder trug sie stets bei sich.
Als sich kalte Finger um ihr Handgelenk legten und fest zupackten, schrie sie erschrocken auf.
Was zum Teufel tust du hier? Diese Stimme hätte sie unter Tausenden von Stimmen wiedererkannt.
Ich gehe spazieren, was dagegen?
Du zitterst wie Espenlaub und bist dennoch vorlaut wie eh und je. Hat man dir nicht beigebracht, bei einer Nachtwanderung im Schnee besser einen Mantel zu tragen? Und jetzt komm mir nicht mit dem Satz, dass du keinen Vormund brauchst.
Wie wäre es damit: Ich beginne mich damit abzufinden, dass ich in ein paar Tagen Teil des ewigen Eises sein werde, und möchte mich schon mal ein wenig akklimatisieren. Sie grinste gespielt lieblich.
Und ich dachte, du bist eine Kämpferin.
Was nutzt ein Kampf ohne erkennbaren Hoffnungsschimmer? Innerlich wieder lebendig, kehrte auch das Kälteempfinden zurück. Ihre Lippen bebten, ihr Körper schlotterte. Kurzerhand hob der Schneekönig sie auf seine Arme und trug sie zum Schloss zurück. He, ich habe zwei Füße und kann laufen, begehrte sie auf, äußerlich bestimmt, innerlich sehr halbherzig, denn sie war froh, nicht mehr durch den Schnee stapfen zu müssen. Er seufzte gespielt theatralisch: Schade, die Kälte hat doch kein schnurrendes Kätzchen aus dir gemacht. Ihr habt Euren Sarkasmus aber auch nicht verloren. Ihre Zähne klapperten vor Kälte im wilden Takt unaufhörlich aufeinander.
Im Schloss stieß er mit dem Fuß die Tür zu ihrem Zimmer auf und ließ sie hinab. Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, ohne seinen Blick zu erwidern, als er sie am Arm festhielt. Wo bleibt meine Belohnung? Eine Belohnung? Wofür? Dafür, dass Ihr mir meinen Spaziergang vermasselt habt? Amelie befand sich in einer Ausnahmesituation. Die Sorge um ihren Bruder, die ablaufende Frist, dieser unverschämte Kerl, der trotz allem eine verzehrende Sehnsucht in ihr auslöste das alles ließ sämtliche Sicherungen bei ihr durchbrennen. Wütend funkelte sie ihn an, trat einen Schritt zurück, um einen Abstand zwischen ihre Körper herzustellen und wollte zum nächsten Schlagabtausch ausholen.
Im nächsten Augenblick schrie sie jedoch überrascht auf. Ohne eine Chance auf Gegenwehr zog der Schneekönig sie heftig an sich.
Lasst
Der Rest ging in einem wohligen Stöhnen unter, als sich seine Lippen auf die ihren pressten.
Sie war versucht, die Hände gegen seine Brust zu stemmen und ihn energisch von sich zu schieben, jedoch gefiel ihr sein Kuss so gut, das sie schon bald gar nicht mehr daran dachte, sich zur Wehr zu setzen.
Sie spürte, wie er für einen Moment verharrte, einen erstaunten und schweren Atemzug tat, dann schloss sie genießerisch die Augen, ließ sich fallen in jene sinnlich entrückende Stimmung zwischen Tag und Traum.
Wie weich und warm sich seine Lippen anfühlten. Auch ein wenig salzig. Ein wohliger Schauer durchströmte sie, ihre Knie begannen zu zittern, so dass sie sich unwillkürlich an seinen Körper schmiegte, um sich an ihm festzuhalten. Doch es war mehr. Viel mehr. Heiß schoss ihr das Blut durch die Adern. Ihr Herz stolperte, als sich seine Zunge genussvoll einen Weg zwischen ihre leicht geöffneten Lippen bahnte und neugierig das Innere ihres Mundes erkundete. Der Kuss schmeckte süß und aufregend. Als der Druck seiner Lippen sich verstärkte, hätte sie vor Wonne beinahe aufgestöhnt.
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