Masken der Sinnlichkeit
Eine absurde Mischung aus Grauen und Neugier sprang sie wie ein eigenständiges Lebewesen an. Sie brauchte einen Moment, um sich und ihren Mut zu sammeln. Ihre Begleiterin blendete sie vollkommen aus ihrer Wahrnehmung aus.
Entschlossen legte sie erneut die Hände auf die Wand. Dieses Mal drang sie mühelos in das Fluidum vor, das scheinbar so gar nichts mit der Realität ihrer Welt zu tun hatte. Ihre Augen sahen einfach eine Wand, auf der ihre Hände lagen. Ihre „inneren Sinne“ – nein – ihre „innere Welt“, die sie ihr Leben lang in merkwürdige Tagträume verstrickt hatte, erschloss jedoch ein Meer aus feinstofflicher Schwärze und Licht.
Licht, das sie selbst in diese Schwärze trug und mit dem sie diese mit spielerischer Leichtigkeit ihrem Willen unterwarf. Wie selbstverständlich machte sie einen Schritt vorwärts.
Vanadis stand nicht mehr auf dem buckligen Kopfsteinpflaster der kleinen Gasse sondern auf einem fugenlosen, vollkommen glatten und vor Schwärze spiegelndem Material, das leicht unter ihren Füßen nachgab. Sie befand sich am Rand eines riesigen grob ovalen Raumes, der vollständig aus dem gleichen Stoff zu bestehen schien. Über ihr erhob sich eine gewaltige Kuppel in solche Höhe, dass das Haus ihrer Eltern leicht dreimal übereinander darin Platz gefunden hätte. Unter dieser majestätischen Decke, und vereinzelt auch im Raum verteilt, schwebten Milliarden winziger Sterne, die mit ihrem zeitlosen Licht alles erhellten. Die Schönheit des silbernen Lichts schickte Vanadis das Wasser in die Augen.
Dennoch – die eigentliche Erhabenheit des Raumes ging von dem knappen Dutzend hier versammelten Personen aus. Wie stumme Götter standen sie vor einer Art Bühne zusammen. In absoluter Stille schienen sie eine unbestimmte Vorfreude zu teilen und die Gegenwart der anderen zu genießen, ohne hierüber sinnlose Worte zu verschwenden. Sie trugen phantasievoll geformte Kristallgläser in den Händen, die mit roten oder schwarz-violetten Flüssigkeiten gefüllt waren. Die seltsamen Getränke glühten sanft vor sich hin und ließen kleine farbige Rauchschwaden von ihrer Oberfläche aufsteigen. Über allem lag eine Stimmung, die wieder einmal eine bisher unbekannte Seite in Vanadis zum Schwingen brachte. Was jedem Menschen unheimlich, vielleicht sogar beängstigend vorgekommen wäre, empfand sie als höchste Form von Freundschaft, Verbundenheit und Geborgenheit. Es musste eine große Ehre sein, Teil einer solchen Gruppe zu werden.
Als hätten die „stummen Götter“ ihr Gelegenheit geben wollen, sich in die Umgebung einzufinden, „bemerkten“ sie erst jetzt ihre Anwesenheit und wandten sich ihr zu. Obwohl sie alle ihre typischen venezianischen Masken trugen, erkannte Vanadis jeden Einzelnen von ihnen sofort. Sie alle gehörten zu der Gruppe, die sich ihr auf dem gestrigen Fest vorgestellt hatte. Er war jedoch nicht darunter; sie hätte ihn mit Sicherheit lange gefühlt, bevor sie ihn gesehen hätte.
Beiläufig reichten die Mitglieder der geheimnisvollen Gruppe ihre Gläser den jungen Mädchen, die ... erschüttert stellte Vanadis fest, dass sie diese einfach übersehen hatte. Wie Möbel. Dabei war jede von ihnen eine Schönheit und so knapp bekleidet, dass es sogar am Hofe Carl Eugens für einen Skandal gereicht hätte. Sie trugen Lendenschurze aus verschiedenen farbenfrohen Stoffen, die die makellosen Beine betonten. Der Busen wurde mit leichten Oberteilen aus dem gleichen Material bedeckt, die jedoch den Bauch völlig unverhüllt ließen. Bei einigen waren sogar die Ansätze des Busens zu sehen. Doch obwohl jedes der Mädchen auf einer beliebigen Straße der Welt alle Blicke auf sich gezogen hätte, verblassten sie alle vor der Anmut und der Präsenz ihrer Eigentümer und vermochten es nicht, Vanadis’ Aufmerksamkeit lange zu fesseln.
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Weitere Leseproben
[Zurück zum Buch]
|