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Der Fluch der Halblinge - Kapitel 2: Und wie es dazu kam
Wollt ihr wissen, wer ich bin? Macht euch keine Gedanken. Es genügt, dass ich weiß, wer ihr seid. Die Katastrophe begann in genau jenem Moment, da Fionn die Leiche von Magister Brychan fand und alles darauf hinwies, dass es die Tat eines Bogins gewesen war, was sich deswegen als umso schlimmer erwies, dass ausgerechnet er – ein Bogin, da gab es nun einmal nichts dran zu rütteln – nur wenige Augenblicke später neben genau dieser Leiche und auch noch blutbesudelt aufgefunden wurde. Und das geschah am Tag nach der Feier, genauer gesagt am frühen, ja am allerfrühesten Morgen, und Fionn war trotz seines mächtigen Katzenjammers ein zweites Mal entgegen seiner Gewohnheit derart zeitig aus dem Bett gestiegen. Gestern, weil es sein Geburtstag gewesen war, und heute, weil er ein Geräusch gehört hatte. Ein Geräusch, das ungewöhnlich war und nicht in dieses Haus gehörte, und das selbst durch wein- und bier- und schnapsselige Träume, die um ein zauberhaftes Wesen namens Cady kreisten, hindurchschallte und ihn weckte. Und er wusste, es war etwas geschehen, und nichts Gutes. Die Vernunft warnte seinen trunkenen Verstand liegenzubleiben und abzuwarten, doch seine furchtsame Neugier zwang ihn auf die Beine und dorthin, von woher das Geräusch gekommen war. Noch war er der Erste, noch schien alles im tiefen Schlummer zu liegen, noch war Fionn mit dem Entsetzen seiner Entdeckung ganz allein. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf ... »So ist es recht!«, bemerkte Tuagh lobend und bestellte die nächste Runde Schwarzbier. Er schien sich bestens zu amüsieren. »Das habe ich erwartet. Trotzdem geht es mir etwas zu schnell. Wie kam es dazu?« »Ich komme ja schon darauf zu sprechen«, seufzte Fionn. »Aber dazu muss ich ein bisschen ausholen.« »Ich kann es kaum erwarten. Erzähl mir von euch Bogins! Ich weiß so wenig über euch.« »Niemand weiß das, denn wir fallen ja nicht weiter auf und zeigen uns auch so gut wie nie in der Öffentlichkeit. Und schließlich sind wir nicht sehr groß. Halblinge nennt ihr Menschen uns auch gern. Das ist mir aber immer noch lieber als Bucca.« »Oh, missverstehe das Wort Halbling nicht, das hat nichts mit eurer Größe zu tun! Und wenn ich mich recht erinnere, bezeichnet ihr selbst euch ebenfalls als Halblinge, oder nicht?« »Nun ja, schon, aber aus eurem Munde klingt es trotzdem nicht freundlich.« »Ach was, ich meine es in eurem Sinne und viele andere bestimmt auch. Bucca, nun ja, das ist wenig schmeichelhaft, zugegeben. Doch wir wollen uns nicht mit langatmigen Ausführungen über Beleidigungen aufhalten. Also fahre fort!« Genau einen Tag zuvor war alles in bester Ordnung gewesen, um nicht zu sagen, es sollte der beste aller Tage werden, zählte man eine vielleicht mögliche Hochzeit nicht mit dazu. Zumindest war es der wichtigste Tag im Leben eines Bogins, ja, noch wichtiger als der Bund einer Vermählung. Der Tag der Doppel-Zwei, des Volljahrs, war gekommen. Fionn Hellhaar war so aufgeregt, dass er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit schon vor Sonnenaufgang erwacht war, Ridirean hatte noch nicht einmal den ersten Schlag getan. Noch schneller als üblich war er gewaschen und angekleidet und untersuchte sich im Spiegel daraufhin, ob es vielleicht eine erkennbare Veränderung zu gestern gab. Denn gestern war er noch ein Kind gewesen, und ab heute galt er als Mann. Doch alles was er sah, war der Bogin, den er jeden Tag sah. Eher schmal von Gestalt, fast ein wenig zu groß, von mäßiger Behaarung und mit seidig-lockigen blonden Haaren. Und dazu auch noch Augen von dem dunklen Blau eines kalten, klaren Winterhimmels. Seine Haut war hell, und seine schmalen Wangen wiesen nur einen leicht rosigen Schimmer auf. Er sah so gar nicht nach einem typischen, gestandenen Bogin aus, egal wie sehr er sich jeden Abend aufs Neue wünschte, am Morgen verändert aufzuwachen – nämlich so, »wie es sich gehörte«, wie Onkelchen Fasin zu sagen pflegte. »So haben Bogins nicht auszusehen«, dozierte der alte Benimmmeister der jungen Halblinge und zeigte jedes Mal auf Fionn Hellhaar als Beispiel. Bogins gehörten zu den Kleinen Völkern, aber sie unterschieden sich von den anderen erheblich. Zum einen waren sie größer als die meisten – sie reichten gut an ein menschliches Kind von zehn bis zwölf Jahren heran – und waren leicht an ihrem Aussehen zu erkennen. Eine ins bräunliche neigende Lederhaut, die braunen bis schwarzen Haare waren dick und wollig gelockt und nie in Ordnung zu bringen, und sie besaßen große dunkle Augen. Sie waren von kräftiger Statur und die Männer wiesen eine kräftige Körperbehaarung auf – Füße und Schienbeine, Unterarme, Brust, Schultern und Handrücken. Und sie besaßen rosige Pausbacken. Das alles hatte Fionn irgendwie nicht vorzuweisen. Seine Erscheinung gab Anlass genug zu Spott, wenngleich es niemand wagte, auch nur eine Silbe in der Nähe von Alana, Fionns Mutter, verlautbaren zu lassen. Im Gegensatz zu seinem sanften Vater, der am liebsten nach getaner Arbeit im Garten saß und Pfeife rauchte, war Fionns Mutter eine resolute, kräftige und große Boginfrau, die selbstbewusst genug war, dass sie dem Herrn die Stirn bot. Sie saß selten still und fand leider auch immer genug, womit sie ihren einzigen Sohn antreiben konnte, nicht nur seinen Vater Hagán. Und alle anderen natürlich auch. Selbst Onkelchen Fasin spurte vor ihr. Fionn rückte die sorgfältig gebundene Schleife an seinem frisch gestärkten, gestreiften Hemd zurecht, zupfte an den Hosenträgern, zog die leichte Jacke mit den Seidenapplikationen über, die seine Mutter ihm für heute genäht hatte, und seufzte tief. »An diesem Tag ein solcher Seufzer?«, erklang eine Stimme hinter ihm, und er fuhr zusammen. In der Tür stand sein Herr. »Oh, Herr, es tut mir leid«, stammelte Fionn und verbeugte sich artig. »Nun, nun, beruhige dich, Junge.« Meister Ian Wispermund bückte sich und trat ein. Die herrschaftlichen Räume des Hauses besaßen die gewohnte Deckenhöhe, die Unterkünfte der Bogins jedoch waren ihrer Größe angepasst, und auch ihren Bedürfnissen, der Natur nahe zu sein: Alle Fenster gingen in den Garten hinaus, nicht zur Straße. Fionns Herr war ein respektierter Gelehrter alter Sprachen und der Rechtskunde, der oftmals als Ratgeber an den Hof gerufen wurde. Die Àrdbéana, die Höchstadlige, stellte die Oberste Gerichtsbarkeit aller Völker dar und war die Repräsentantin des Friedens. Ihr Wort war Gesetz, nach dem sich alle Völker richten mussten, von den Elben bis zu den Nachtmahren. Manchmal war es schwierig, ein Urteil zu fällen, und dann wurde nach Meister Ian gerufen. Er war hochgewachsen und hager, trug zumeist das bis zu den Fußknöcheln reichende Gelehrtengewand und den schwarzen Hut der Weisen, ein etwas unförmiges Ding aus Samt mit einer goldenen Borte und Quaste daran. Haare und Bart waren längst weiß, das Gesicht genauso runzlig wie das von Onkelchen Fasin, der bei ihm am längsten in Dienst stand, und er benötigte zum Lesen Augengläser, die er sich auf den Nasenrücken klemmte. Seine nussbraunen Augen waren die gütigsten, die man sich vorstellen konnte. Stets in tiefschürfenden Gedanken vergraben, war der Meister zumeist sehr zerstreut. Ohne Fionns Mutter würde Meister Ian nicht einmal seinen Kopf finden, wenn er nicht auf dem Hals festgewachsen wäre, pflegte Alana zu sagen. Sobald es allerdings um Sprachen und Rechtskunde ging, war sein scharfer Verstand unerreicht, und dann konnte er sogar energisch werden, wenn man ihm nicht richtig zuhörte. »Du hast heute Geburtstag«, fuhr Meister Ian fort. »Und ich möchte dir als Erster zu diesem besonderen Tag gratulieren, denn die Doppelzwei ist etwas Wunderbares. Als dein Beschützer bin ich dazu verpflichtet, dir das wichtigste Geschenk zu überreichen.« Der alte Mann lehnte es ab, als »Herr« tituliert zu werden, er sah sich als Schutzpatron seiner Dienerschaft. Fionns Herz schlug schneller. Andächtig nahm er das Buch entgegen, das sein Herr ihm überreichte; es war in Bullenleder gebunden, mit prachtvoll behauenen Silberbeschlägen und einer großen farbigen Rune auf dem Umschlag. A für die Große Arca, das »umfassende Geheimnis«, eine uralte Philosophie in zweiundzwanzig Sprüchen. Jeder Bogin, der das Volljahr mit zweiundzwanzig Jahren erreichte, bekam sie überreicht und durfte sie ein Jahr lang behalten. Meister Ian besaß eine besonders wertvolle Ausgabe, für die ihm schon jede Menge Goldaugen geboten worden waren. Aber Gold interessierte ihn nicht weiter; er hatte ein gutes Auskommen und benötigte nicht mehr. Bücher waren ihm viel wichtiger als Juwelen. »Ich danke Euch, Herr«, sagte Fionn förmlich. Meister Ian mochte es hassen, so viel er wollte – Onkelchen Fasin war noch viel unnachgiebiger in dem, was Anstand betraf, und zog jedem nachlässigen Kind, das nicht genau die Regeln befolgte, ordentlich den Hosenboden stramm. Mit der Zeit war der Benimm so tief verwurzelt, dass die Heranwachsenden gar nicht mehr anders konnten. Meister Ian winkte ab, sagte aber nichts; er wusste gut genug, warum Fionn dabei blieb. »Also, Fionn, was ist der Grund für deine Trauer an solch einem besonderen Tag, an dem noch dazu die Sonne scheint?« »Ach, es ist nur wie gewohnt mein Aussehen, Herr«, murmelte Fionn und stellte sich wieder vor den Spiegel, versuchte seine Haare in Unordnung zu bringen und schaffte es nicht; es gelang ihm nie. Ein Schopf, »eines Elbenkindes würdig«, hatte mal ein Besucher seines Herrn gesagt. Leichte Hoffnung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Liegt es vielleicht daran, dass ich Elbenblut in mir trage, Herr?« Meister Ian ließ sich umständlich in einem Sessel nieder, weil ihm das dauernde gebückte Herumstehen zu anstrengend wurde. Er kicherte leise. »Weder dein Vater noch deine Mutter tragen Elbenblut in sich, also würde ich sagen: Nein, daran liegt es nicht. Würde mich auch wundern, die Elben geben sich ja kaum mit Meinesgleichen ab.« »Aber was ist es dann?« Unglücklich fasste Fionn sich ans bartlose Kinn. Ein paar kümmerliche Haare wuchsen dort, die er regelmäßig mit dem traditionellen Messer, das jeder Bogin, ob weiblich oder männlich, zur Geburt bekam und sein Leben lang trug, wegrasierte, weil es einfach zu lächerlich aussah. Auf seiner Oberlippe zeigte sich nur leichter Flaum, den zu entfernen nicht einmal lohnte. »Werde ich je normal aussehen?« »Ich vermute mal, es liegt daran, dass deine Mutter nicht aus Sìthbaile stammt«, überlegte Meister Ian. »Ich habe sie ja damals von einem reisenden Gelehrten gekauft. Ihre Papiere schienen in Ordnung zu sein, aber von wo genau sie jetzt herkommt, weiß ich eigentlich gar nicht. Ich könnte nachsehen, bin nur nicht sicher, ob ich den Vertrag noch finde.« »Aber meine Mutter sieht doch aus wie alle anderen Bogins, und mein Vater auch. Ich bin der Einzige, der völlig aus der Art fällt!« »Nun, an irgendwas muss es ja liegen. Was machst du dir überhaupt für Gedanken, Junge! Du solltest dich freuen, etwas Besonderes zu sein.« »Gar nicht, Herr. So werde ich Cady doch nie für mich gewinnen können ...« »Ah, so ist das also.« Meister Ian war alt, aber vergessen hatte er nicht. Er war einmal verheiratet gewesen, aber seine Frau war vor langer Zeit im Kindbett gestorben, und er hatte seine Tochter ohne Frau aufgezogen. Nun war sie selbst verheiratet, und der Meister war allein geblieben. Er setzte sich auf. »Hast du denn schon mit Cady darüber gesprochen, dass du sie magst?« »Bei allen Elbenschwüren, natürlich nicht!«, wehrte Fionn erschrocken ab. »Dann wüsste sie es ja!« »Ich glaube, genau darum geht es«, meinte sein Meister. »Du bist ja noch kurzsichtiger als ich. Soll ich dir mal meinen Zwicker leihen, damit du klarer siehst?« »Ach, Herr, das hat doch alles keinen Zweck.« Fionn gab es auf. Das einzige wirklich wirksame Mittel wäre ein Hexengebräu, das ihn in jemand anderen verwandelte. Aber dazu würde es nie kommen, denn dazu müsste er das Haus verlassen und in die Stadt gehen – das durfte er zum einen nicht, und zum anderen besaß er ja überhaupt kein Geld. Hier im Haus brauchte er keines. Das oberste Gesetz der Àrdbéana lautete, dass jeder Sklave bestmöglich versorgt und eingekleidet werden musste. Verstöße wurden schwer geahndet, wie ein Hochverbrechen. Sein Herr wiegte den Kopf. »Wer weiß. Ich habe nämlich noch eine Überraschung für dich. Anlässlich deines Geburtstages, und weil ich heute Gäste erwarte, darfst du am Abend ein Fest mit deinen Leuten feiern.« Fionn fuhr herum. »Wirklich?«, schrie er freudig auf. »Oh, Herr, ich danke Euch, das ist ... das ist das schönste aller Geschenke!« »Mhmja, natürlich unter der Bedingung, dass meine Gäste nicht darunter zu leiden haben«, schränkte der Meister ein und stemmte sich mühsam aus dem niedrigen Sessel. Er vergaß für einen Moment, wo er sich befand und stieß sich den Kopf an – nicht zum ersten Mal, übrigens, das war schon eher ein Ritual. Seine Mütze fiel herunter, und Fionn beeilte sich, sie aufzuheben und dem Herrn zu reichen. »Einige meiner Gäste werden bestimmt den einen oder anderen Sklaven mitbringen, sodass für genügend Abwechslung gesorgt ist«, fügte Meister Ian hinzu. »Und für dich wäre es die beste Gelegenheit, dich Cady zu nähern. Ich glaube, sie hat nichts dagegen, wenn mich meine alten Augen nicht trügen. Meine Erlaubnis hast du.« Er nickte seinem Sklaven noch einmal zu und ging dann krumm und schief nach draußen, wo er noch einmal innehielt. »Aber vergiss darüber nicht, die Große Arca zu öffnen und zu studieren, das ist deine Aufgabe für heute zur Mannwerdung. Denn morgen schon wirst du dich den Pflichten und der Verantwortung eines Erwachsenen stellen und dein unbeschwertes Leben ablegen müssen.« Weitere Leseproben
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