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no. 16: driften -> dünen
 

Sand Dünen Driften

von Klaus Kroy

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Die Wanderdüne als schlafwandelnde Sphinx, als Zwischenwesen auf halber Strecke von der unbelebten zur belebten Materie, wirft beunruhigende Fragen nach dem Boden unter unseren Füßen auf. Über das komplexe Zusammenspiel von Wind und Sand auf unebenem Grund haben drei deutsche Physiker jüngst Erstaunliches zu Tage gefördert.

 
"Die Springfracht des Windes bläst die Körner über Luv, kaum höher als ein oder zwei Fuß, bis sie am Kamm festgepreßt werden und schließlich wieder abgleiten; es ist wie mit den Wellen. Der Wind schiebt sie vor sich her. Manche stauen sich auf und werden so rund wie Walrücken. Einige kollidieren miteinander, rollen dann weiter und lassen hinter sich eine kleine, noch junge Düne zurück; solche grotesken Imitationen des Lebens wirken auf jemanden, der zu viel Phantasie hat, sehr leicht verstörend."

So steht es in Raoul Schrotts Novelle Die Wüste Lop Nor (2000). Und so liest es sich in Ralph Bagnolds Monographie The Physics of Blown Sand and Desert Dunes (1941):

"Hier wird der Betrachter, anstatt Chaos vorzufinden, immer wieder ins Staunen geraten angesichts einer Einfachheit der Form, einer Genauigkeit der Wiederholung und geometrischen Ordnung, welche in der Natur sonst jenseits des Maßstabs kristalliner Strukturen nicht bekannt ist. Riesige Anhäufungen von Sand, mit einem Gewicht von Millionen von Tonnen, bewegen sich unerbittlich in regelmäßigen Formationen über die Erdoberfläche, dabei wachsend, ihre Gestalt wahrend, ja sich sogar vermehrend, und all dies auf eine Weise, die durch ihre groteske Imitation des Lebens auf einen phantasievollen Geist fast verstörend wirkt." [Übers. K.K.][Anm. 1]

Wo Schrott sich offenbar freizügig bedient hat. Wenngleich naturwissenschaftliches Denken seit je mehr an kulturstiftender Poiesis leistet, als unsere Feuilletons ihm zugestehen wollen, dürfte es wohl doch eher die Ausnahme sein, daß sich der ungefilterte Aufguß wissenschaftlichen Trockenfutters schon gleich als Poesie verkaufen läßt. Vielleicht diktiert ja die Wüste selbst ihren Exegeten die Poesie in die Feder. Ralph Bagnold, der autodidaktische Vater der Wüstenkunde und Initiator der legendären Long Range Desert Group zur Austreibung des deutschen Wüstenfuchses, durfte sein ebenso legendäres Buch nicht beschließen ohne ein abrundendes Kapitel über das Singen des Sandes -- und konnte doch das Geheimnis des Sirenengesangs der Dünen nicht lüften. Mit der Drift des Sandes muß es wohl zu tun haben, zweifellos ist es dem heute verstummten, sagenhaften Raunen der Memnonkolosse von Theben im Schein der Morgenröte eng verwandt. Auch der Protagonist Raoul in Die Wüste Lop Nor sucht das Geheimnis des Sirenengesangs zu ergründen. Schlau zieht sich Schrott am Ende mit einer ethymologischen Drift aus diesem Treibsand.

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Abb. 1

Die Topographie der Erdkruste ist sinnbildich für alles Beharrende, Bleibende. Als konstantes terrestrisches Referenzsystem, das uns über die Alltagsdriften hinweg einen verläßlichen Orientierungspunkt reicht, archetypischer Gegenpol des unablässig driftenden Meeres. Diese wohlfeile Antithese, im allgemeinen Bewußtsein allenfalls durch Erdbeben und Vulkanausbrüche zu erschüttern, verläuft sich beim Betreten der Wüste buchstäblich im Sand. Ganz wie in der Pointe von Trakls Ballade ('Ein Narre schrieb...'), in der sich alle Verse auf Meer oder Land reimen. Beziehungsweise auf Sand. Sand: nichts als unzählige winzige Körner, nicht mehr als Milimeterbruchteile im Durchmesser. Sand bedeckt einen Großteil des Landes. Ein Drittel der Landfläche auf unserem Globus ist Wüste -- wüst und leer. Als Überbleibsel des Tohuwabohus vor der Schöpfung wäre es somit archaischer als das Meer selbst. Andererseits, manche Wüsten entstammen dem Meer, das Sand an Land spült, der dann vom Wind weitergetragen wird. Nur starke Vegetation vermag ihn aufzuhalten. Hoch­wachsendes und höchstwachsendes Gestrüpp. Driftet der Sand schneller als die Pflanzen wachsen, entstehen Wüsten. Ist Äolus guter Laune, formt er darin lustige Dünen: je nach Sandmenge und Wechselhaftigkeit der Winde die unterschiedlichsten Gestalten. Weht der Wind stetig landeinwärts, können die Dünen hunderte, ja tausende von Kilometern ins Land wandern. Weder Haus noch Baum können sie aufhalten (Abb. 1). So geht das Meer über Land. Manchmal auch mündet die Wanderung der Dünen wieder ins Meer. Und selbst auf dem Meeresgrund wandern Sanddünen. Meeresströmungen spielen die Rolle des Windes.

Sand also als Inbegriff des schleichenden Ausweichens, der haltlosen, ziellosen Drift. Auch der Schulbuch-Kategorisierung der Erscheinungsformen der Materie in feste, flüssige, und gasförmige Aggregatszustände scheint sich das Chamäleon Sand zu entziehen. Ein offenbar willfähriger Komplize beliebiger äußerer Einflüsse, driftet[Anm. 2] er ohne viel Aufhebens vom festen in einen gewissermaßen flüssigen oder sogar gasartigen Zustand, und antwortet doch andererseits auch mit widerspenstiger Dilatanz auf Versuche der gewaltsamen Verformung: darum bildet sich ein heller trockener Hof um jeden unserer Schritte im nassen Sand. Überhaupt sind seine Verbindungen mit anderen Elementen nicht immer ganz geheuer. Sandstürme und Treibsand, daraus sind die Alpträume der Wüstenfahrer. Die mit prometheischer List gebändigte Gewalt des Feuers vermag ihn zum universellen Rohstoff des Informationszeitalters einzuschmelzen[Anm. 3]. Wenigstens ein Rohstoff, der auf absehbare Zeit nicht knapp wird. Das Driften des Sandes erzwingt nomadische Lebensformen. Auf Sand baut sich nun mal sprichwörtlich schlecht. Seit der kopernikanischen Wende -- spätestens seit Newton in seinem sogenannten ersten Gesetz der Mechanik entgegen der aristotelischen Physik das Driften zum nicht weiter erklärungsbedürftigen, grundlosen status quo degradiert hat -- driften wir alle. Im Aphel dieses kulturgeschichtlichen Erdrutsches hat die Postmoderne sich schließlich aufs nomadische Denken herausgeredet.

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Abb. 2

Symbol des ariden Nomadentums ist die Barchan (Abb. 2) genannte, mondsichelför­mige Wanderdüne mit ihrem rippelbewehrten, von Jeeps befahrbaren Walrücken, ihrer fortwährend rutschenden, weichen Bauchflanke, die überall das exakt gleiche Ge­fälle hat, und mit ihrem, wie mit dem Lineal gezogenen, messerscharfen Kamm. Makellose Eleganz als zwanghaftes Produkt der Wechselwirkung des Windes mit dem Sand. Hundert Billionen Sandkörner stecken in einem typischen Barchan von etwa sechs Metern Höhe und knapp hundert Metern Länge. Etwa genauso viele wie Zellen im menschlichen Körper. Die von der mathematischen Benennbarkeit (und also Beherrschbarkeit) nicht gänzlich auszutreibende Ungeheuerlichkeit dieser Zahl diente schon Archimedes in seiner arithmetischen Schrift Die Sandzahl als Appetitanreger: "Es gibt Leute, König Gelon, die der Meinung sind, die Zahl des Sandes sei unendlich groß." In der Tat wären selbst die leistungsfähigsten Rechenmaschinen unserer Zeit geradezu lächerlich nutzlos, wollte man die Drift von Dünenfeldern, bestehend aus hunderten von Dünen und mit Ausdehnungen über tausende von Quadratkilometern, aus dem Springen und Rollen der einzelnen Sandkörner berechnen. Oder auch nur das Gewirbel des Windes, welches die Körner antreibt. Da hilft es nichts, daß die Gleichungen zumindest für letzteres seit über 150 Jahren bekannt sind, und auch verblüffend einfach aussehen.

Andererseits: wäre es nicht ebenso töricht, die Ursache für die charakteristische Gestalt der Düne aus den Eigenschaften des einzelnen Sandkorns herleiten zu wollen, wie die des Menschen aus dem Abrakadabra der Biochemie? Sind nicht beide Erscheinungen (annähernd) invariante Integralfunktionen des wechselnden Stoffes? Wie die Epithelzellen des menschlichen Körpers allmonatlich ersetzt werden, ohne uns uns selbst und unseresgleichen unkenntlich zu machen, so werden im Laufe der Jahrhunderte nach und nach alle Sandkörner einer Wanderdüne gegen von Luv neu angelieferten Sand ausgetauscht. Sanduhren gehen eben langsamer. Alle paar Jahre läuft jedes Sandkorn im Schnitt einmal den Dünenrücken hinauf bis zum Kamm, um von dort mit einer Lawine hinunter zu stürzen und irgendwo begraben im dicken Dünenbauch abzuwarten, bis es eines Tages am Dünenrücken wieder auftaucht, um schließlich früher oder später über die windwärts voran kriechenden Hörner der Düne diese für immer zu verlassen.

Fazit also: Die Wanderdüne als romantisches Vexierbild des Lebens in der unbelebten Natur? Eine sirenengleich singende, schlafwandelnde Sphinx -- Zwischenwesen, Sackgasse auf halber Strecke von der unbelebten zur belebten Materie, unerklärlich, unverstehbar, mysteriöses Echo des ewigen Lockrufs, zurückzudriften ins Aorgische? Im Widerstand gegen die Lockungen der Sirenen, der Überwindung der geheimnistuerischen Sphinx, gründet bekanntlich das Erfolgsrezept unserer abendländischen Praxis-Kultur -- und zugleich, wie man an Eichendorffs Zwei Gesellen und auch anderswo nur zu gut sieht, ihr prosaischer Charakter. Wenden wir uns also den prosaischen praktischen Fragen zu: Warum bilden sich Dünen überhaupt? Unter welchen Bedingungen sind sie stabil? Was determiniert ihre Gestalt, was ihre Größe, ihre Geschwindigkeit? Wie hängt ihre Gestalt von der Größe, ihre Größe von der Geschwindigkeit ab? Auf solche einfachen Fragen vermochten noch vor kurzem selbst Experten nicht anders als mit vagen Vermutungen zu antworten, einem verworrenen Widerhall des intellektuellen Weitsprungs Bagnolds.

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Abb. 3

Hier beginnt unsere Geschichte. Im Frühjahr 1999 schickt der Physikprofessor Hans Herrmann seinen Studenten Gerd Sauermann in die Wüste -- mit dem Auftrag, Barchane in der Nähe der kleinen Stadt Laayoune in Marokko (unweit der Kanarischen Inseln) genau zu vermessen. Das Ergebnis nach der Auswertung der Daten am Computer ist eine kleine wissenschaftliche Sensation: Die Gestalt der Dünen folgt zweifelsfrei einem universellen, noch un­verstandenen Formgesetz, ist aber genauso unzweifelhaft systematisch größenabhängig (Abb. 3). Daß eine hundert Meter lange Düne eine meßbar andere Gestalt hat als eine fünfzig Meter lange Düne sollte überraschen: Verglichen mit Sandkörnern sind sie beide Giganten. Und die einzige ausgezeichnete Längenskala weit und breit ist in der Tat der winzige Korndurchmesser. Die turbulente Strömung des Windes weist eine selbstähnliche, fraktale Struktur auf. Der Wind kann zwischen großen und kleinen Dünen daher nicht unterscheiden. Bezogen auf welches Maß sind also manche Dünen groß und andere klein zu nennen? Viele sonnige Nachmittage diskutiere ich mit Gerd auf einer Dachterrasse des ESPCI im Pariser Quartier Latin, bis wir ein Modell ausgetüftelt haben, von dem wir glauben, daß es die für den äolischen Sandtransport und die Dünenbildung wesentliche Physik enthält und nichts Unnötiges darüber hinaus -- und von dem wir darum hoffen, daß es einfach genug ist, daß unsere Rechnungen ihm die gesuchten Antworten entlocken können. Und tatsächlich sind wir eines Tages in der Lage, die Entstehung von Dünen aus einer Symmetriebrechung des turbulenten Strömungsprofils des Windes über einer Unebenheit mithilfe des Modells zu erklären. Es zeigt auch, daß sich die Gestalt sehr großer Dünen der erwarteten Skaleninvarianz annähert, während kleinere Dünen eben doch noch etwas von der Größe des Sandkorns zu wissen scheinen. Zwanglos liefert das Modell die subtile Variation der Dünengestalt mit dem Verhältnis Dünengröße zu Korngröße. Wie von Gerd Sauermann beobachtet, sagt das Modell für große wie für kleine Dünen ein nahezu sinusförmiges Profil entlang der Windrichtung vorher, aber unterschiedliche Positionen für den Dünenkamm bezüglich des Maximums dieses Profils. Als überraschend einfach und universell stellt sich die Formel für die Driftgeschwindigkeit der Dünen heraus, letztere ist im wesentlichen reziprok proportional zur Länge der Dünen. Was die alten Ägypter wohl schon empirisch ausnutzten, wenn sie mal etwas zu verstecken hatten: unter tausenden Tonnen Sandes für ein Jahr, zwei Jahre, Jahrzehnte... Endlich können wir auch verstehen, warum Dünen unterhalb einer gewissen Größe einem drastischen Gestaltübergang zum Opfer fallen und in Windeseile erodiert werden, während andere beliebig groß werden können, solange nur der ankommende Wind genug Sand mit sich trägt. Wir spüren, ein Tor ist aufgestoßen. Unser vollständiges Modell (download) wirft zugleich weiterführende Fragen auf, etwa, wie Dünenfelder stabil sein können, die sich entlang der Windrichtung über hunderte von Kilometern erstrecken, ohne daß eine Riesendüne alle anderen auffrißt. Und so weiter.

Rechtzeitig zur Jahrtausendwende findet das Mars Global Surveyor Project Dünen auf dem Mars. Barchan-Kolonien, denen auf der Erde zum Verwechseln ähnlich, ziehen auch über den roten Planeten. Wie ihre terrestrischen Verwandten mögen auch sie schon Jahrhunderte oder Jahrtausende unterwegs sein. Die Sensationsbilder werden paritätisch auf die beiden Gralshüter-Journale Nature und Science verteilt. Mit dieser kosmischen Erfolgsmeldung kommt auch "Sand Dünen Driften" ans Ende, wie Die Wüste Lop Nor mit der Vorhersage schließend, "daß singende Dünen auch auf anderen Planeten beobachtbar sein müßten, überall dort, wo es Wüste gibt und Wind ..."

 

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