HYPErLYNX 27.3: außerhalb der zeit, stehen - bewegen

"auszeit" #3

"auszeit"-Konzerte der Gesellschaft für akustische Lebenshilfe im Kulturviertel

Auf der Spur des Erhabenen

Es ist, als wollte die Gesellschaft für akustische Lebenshilfe ihr zehn-jähriges pädagogisches Wirken für das präzise Hören mit einem Seminar für Fortgeschrittene krönen, das alles bis dahin Gehörte resümmiert, indem es den Urgrund allen Klingens auslotet. So wie die Physiker davon träumen, ganze Theoriegebäude in einer einzigen Weltformel zusammenzufassen, sind wir als Hörer hier immer auf der Spur des Grundsätzlichen, ja, des Erhabenen.

Bei Alvin Luciers "Music for Piano with slow sweep pure Wave Oscillators" etwa. Zwei Sinusgeneratoren erzeugen sozusagen monochrome Töne, das Grundmaterial jedes Klangs. Gegenläufig durchschreiten sie langsam vier Oktaven und damit jede mögliche Kombination zweier Töne. Dazu schlägt Hildegard Kleeb einzelne Töne auf dem Klavier an, die mit den Sinusfrequenzen in Schwebung geraten. Kombinations- und Differenztöne entstehen. Das Ganze wirkt wie ein Experiment im Akustiklabor. Was wir hören lässt sich physikalisch exakt beschreiben. Und doch ist das mehr als ein akustisches Experiment. In der Beschränkung auf Berechenbares erfahren wir, wie unser Gehör funktioniert, nicht in Form einer naturgesetzlichen Erkenntnis, sondern als ästhetisches Empfinden. Lauscht man den Schwebungen, so wird unmittelbar erfahrbar, dass die Klänge eigentlich erst in unserem Kopf entstehen.

Für solch eine elementare Erfahrung bedarf es der Ruhe, Konzentration und eben solcher radikaler Reduktion auf einen minimalen Vorrat von musikalischen Parametern. Erschreckend und erleichternd ist das zugleich. Da hat man ganze Symphonien gehört, opulente Meisterwerke - und dann das! Nicht anders bei Wolfgang von Schweinitz' "zwei stimmen posaunen". Roland Dahindens mit bewundernswerter Ausdauer besungene Posaune erzeugt einen sonoren Mischklang, der "online" aufgezeichnet und über Lautsprecher wiedergegeben wird. Was ist hier "echt", was "Reproduktion"? Die Posaune spielt mit sich selbst. Ein akustisches Vexierbild, das selbst in seiner enormen Länge von einer Stunde nie langweilig wird, obwohl oberflächlich gehört fast nichts passiert. Sind so die Parameter Tonhöhe und Zeit erschöpfend behandelt, fügen Peter Ablinger mit "Red on Maroon" für Flöte und Elektroakustik sowie Roland Dahindens "lichtung kiel" für Viola und Elektronik die Dimension des Raumes hinzu. Und wir lernen: Nicht nur in unserem Kopf entsteht der Klang, der Klang entsteht in unserem Kopf im Raum.

Der zweite Seminarabend, man begrüßt die Mitzuhörer inzwischen wie gute Bekannte, handelt von den Grundlagen der Tonalität. Lektion eins, das Intervall: "Quart solo" von Ernstalbrecht Stiebler arbeitet mit nur zwei Tönen, einer Quart auf dem Klavier, und erforscht deren Vieldimensionalität im Koordinatensystem von Dynamik, Lage und Rhythmik. Daniel James Wolf ergründet in "Dessins d'enfants (1)" für Klavier und Posaune die kombinatorischen Wurzeln der Mehrstimmigkeit. Markus Trunk wendet die so definierte Axiomatik in "Leafs" an. Staccato-Töne von Posaune, Kontrabass und zwei gedämpften und zum Teil gezupften Klavieren entwerfen eine Art Punktgeometrie auf unterschiedlich klanggefärbten Flächen. Und schließlich verbindet Hauke Harders "Painted Cakes are real, too" (Posaune, Viola, Klavier) solche Forschungen zur genealogischen Archäologie aller Musik zu einem noch erstaunlicheren Erlebnis: Minimale metrische und akkordische Verrückungen lassen uns Klänge "vor-hören". Wir erahnen, was gleich kommt. Wir hören eine Musik der Zukunft, die schon da ist.

 

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