Am zweiten Tag des Jahres 1994 gab es zwei bedeutsame Nachrichten, eine gute und eine schlechte: Die gute war, dass es in der mexikanischen Provinz Chiapas zu einem bewaffneten Aufstand von Indigenen gekommen war; die schlechte, dass sich der Dramatiker Werner Schwab tot gesoffen hatte. Von ihm stammt der kanonische Text: „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“. Ich habe das Stück im selben Jahr in den Münchner Kammerspielen gesehen. Es ist mir eindringlich in Erinnerung geblieben, da ich auf dem Weg ins Theater unfreiwillig einem Zapfenstreich-Ritual beiwohnte. Auf dem Odeonsplatz war die Bundeswehr mit Fackeln aufmarschiert. Angewidert blieb ich stehen und folgte willenlos dem gespenstischen Geschehen. Als ich realisierte, dass ich mich immer noch im Jahr ’94 befand und nicht etwa ’23 oder ’33, riss ich mich los und rannte, gefolgt von einer Truppe Stahlhelme im Stechschritt, Richtung Theater.
Im Sommer desselben Jahres wurde Kohl zum dritten Mal wiedergewählt. Es war ein Scheißsommer, viele schlechte Pillen (und sogenanntes Jubiläums-LSD) machten die Runde, der Neo-Hippie-Spirit der Techno-Community war endgültig auf den Hund gekommen, während sich zugleich viele Ex-Hippies dank Pillen zur elektronischen Musik bekehrten. Es war zum Totsaufen. Allerdings wussten wir damals noch nicht, dass uns Kohls Wiederwahl vorerst das widerliche Spektakel der next generation erspart hatte, das uns vier Jahre später erwartete. Als hätte ich geahnt, was auf uns zukommen würden, stürzte ich mich im Sommer ’98 mit Freuden in den Wahlkampf von Christoph Schlingensief und seiner Partei CHANCE 2000. Vielleicht war das die einzige Chance, das Ende der Wende (oder wie auch immer sich die Abwahl von 16 Jahren Kanzlerkohl damals nannte) doch noch zu verhindern. Der Jungpolitiker von den hessischen Grünen, der sich am meisten darüber aufgeregte, dass unsere Aktivitäten dazu führen könnten, dass „de‘ Digge aus Ogge’sheim“ an der Macht bliebe, ist heute übrigens selbst an der Macht und regiert mit des „Diggen“ Partei Hessen als Wirtschaftsminister. Aber ich greife voraus.
Zunächst wäre in Erinnerung zu rufen, dass Schlingensief damals verkündete: „Wir sind ein Volk – und zwar jedeR von uns: 1 V.“ Das war genial! Wer erinnert sich nicht an den Spaßvogel ’89, der montags neben den allgemeinen „Wir“-Chören herlief mit seinem Schild: „Und ich bin Volker!“ Dank Schlingensief waren wir nun also alle Volker! Endlich würde das deutsche WIR (sind das/ein Volk!) aufgelöst in x-beliebige V’s: und plötzlich sieht man vor lauter Leuten das Volk nicht mehr…
Das ist ja der Hauptunterschied zwischen Deutsch und Englisch: Während people immer sowohl das Volk als auch die Leute meint, ist es in Deutschland immer nur das Volk. Eben nicht die Leut‘ peoples, wie man fröhlich auf neudeutsch sagt, sondern ein homogenes, um nicht zu sagen homogenetisches Ganzes. Etwas übergeordnetes, dem man sich volklich unterordnen muss: etwas, das mehr sein soll als die Summe seiner Teile, etwas Quasi-Sakrales, eine Art Kirche oder nationale Gemeinde – das VOLK GOTTES, allerdings eines „sterblichen Gottes“: eines Staates. Dieses Volk ist der Gral der (bio)politischen Ökonomie, denn auch hier geht es um Gemeinschaftsbildung durch vergossenes Blut, vor allem aber um einen perfiden Trick, der immer wieder erstaunlich gut funktioniert, nämlich die Stellvertretung. So wie der Vater, der Sohn und der Heilige Geist im munteren Reigen immer derselbe, nämlich der jeweils andre sein können, so kann der Fürst (Souverän) zum Volk (Souverän) werden und umgekehrt. Es ist das offene Geheimnis der modernen Demokratien, dass 1. das Volk der Souverän ist und 2. niemals regiert. Etymologisch stammt das Wort Volk vom indogermanischen AGFOL, was sowohl Rudel als auch Leittier heißt und im Laufe der Jahrtausende durch Konsonantenverschiegunb zum Eigennamen ADOLF geworden ist… Das ist natürlich blanker Unsinn, aber derartiges ist heutzutage ja durchaus diskursfähig.
Heiner Müller führte die Volksfixierung auf die Zeit zurück, in der die Franken von den Römern mit Schwert und Kreuz kolonisiert wurden, mit dem Versprechen, das „neue auserwählte Volk“ zu sein. Das ist die Essenz des „arischen Mythos“, der die Nationbildung in Europa schon öfters begleitet hat, wie der Antisemitismus-Forscher Leon Poliakovzeigen konnte. Zu klären wäre nur, warum sich dieser Glaube in Deutschland besonders hartnäckig gehalten hat. Für einen urdeutschen Nationalisten wie Fichte war völkisch klar, die Deutschen sind das Urvolk. Das Ur an sich ist eine deutsche Eigenschaft und es scheint so, als ob das Wort Volk selbst zu jenen Urwörtern gehöre, deren Gegensinn Freud beschrieben hat: So wie das Wort „heilig“ sowohl verehrungswürdig als auch verfemt bedeutet (HOLY SHIT), meint das Wort Volk gleichermaßen Ein- und Ausgeschlossene. Es bedurfte eines politischen Theologen wie Giorgio homo sacer Agamben, um die Welt darüber aufzuklären, dass es in jeder Sprache – zumindest jeder europäischen – eine Spannung gibt zwischen Volk und Volk, also dem gemeinen Volk auf der Straße (den Leuten) und dem Volke, für das, durch das und mit dem regiert wird (der Souverän): ein „ewiger Bürgerkrieg“. Für Deutschland kann man jedoch getrost sagen, dass dieser Bürgerkrieg spätestens 1933 entschieden wurde. Seitdem meint Volk immer Herrenvolk. Kurz darauf entdeckte auch die Partei (die, die immer recht hat) das Volk für sich: die Volksfront. Das Konzept der Klasse war damals von zwei Seiten bedroht: links von der „Masse“ (Kinderkrankheit Anarcho-Kommunismus), rechts von der „Rasse“ (Geisteskrankheit völkischer Populismus). Aber das Volk, das angeblich beides sein kann, war dann doch immer nur die Volksgemeinschaft der Schützengräben, nicht das revolutionäre Volxfest der Commune. Seit hundert Jahren steht das Volk für das Ja zur eignen Vernichtung, solange diese nur die Vernichtung möglichst vieler andrer mit einschließt: Dies ist das Blut…
Für den Philosophen der Postmoderne, Jean-François Lyotard, eröffnet ein Verbrechen die Postmoderne: Was während des Zweiten Weltkrieges in den nazideutschen Vernichtungslagern geschah war kein Völkermord, sondern ein „Volksmord“. Und damit das Ende der Moderne als Ende der großen Erzählung vom Volk als König der Geschichte. 2001 engagierte Schlingensief schließlich eine Bande Neonazis, angeblich aussteigewillige RechtstextremistInnen, die in seiner Züricher Hamlet-Inszenierung (Nazis rein/ Nazis raus) als SchauspielerInnentruppe auftreten sollten. 2014 standen dieselben Leute wieder auf der Bühne, allerdings nicht im Theater, sondern auf der Straße, zum Beispiel Melanie Dittmer („Ich bin immer noch rechtsradikal, habt ihr mich trotzdem lieb?“), Initiatorin der Dügida-Demos (Düsseldorf gegen die Islamisierung des Abendlandes), und agitierte den Volxauflauf mit dem Hooligan-Schlachtruf: „Ahu! Ahu!“ Mit diesen Lauten hätten schon die Spartaner in Griechenland gekämpft, in der Reconquista, und den Islam zurückgedrängt… Nun liegen zwar zwischen der Schlacht am Thermopylen-Pass und der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch christliche Truppen gut 2000 Jahre, aber patridiotische Abendländerinnen denken eben nicht nur an gestern, sondern auch an vorvorgestern. Die Inspiration zu dieser Interjektion entstammt der US-amerikanischen Comic-Verfilmung „300“ der gleichnamigen Graphic Novel von Frank Miller & Lynn Varley (2006) über die legendäre spartanische Schlacht gegen eine persische Übermacht.
Das „Ahu!“ der weniger comicaffinen deutschen Bevölkerung ist inzwischen wieder der Schlachtruf „Wir sind das—Volk!“, der ebenfalls wie eine Sprechblase über den Demos schwebt. „Zehn Deutsche sind dümmer als fünf“, kommentierte Heiner Müller schon damals die Montagsmassen. Das Replay der Bilder vom Herbst 1989 funktioniert wie ein Feedback: „Klar zur Wende!“, heißt es in den Agit-Videos von „Wir sind das Volk Entertainment“. In dieser Namensgebung des (gesamten) Unternehmens kommen Bezeichnendes und Bezeichnetes vollständig zur Deckung, zur Identität. Um nichts anderes geht es den Hooligans, Nazis und Rassisten, sie sind „Identitäre“: Leute also, für die „Festung Europa“ ein positiver Kampfbegriff ist. Diesmal soll keine Mauer eingerissen, sondern eine errichtet werden. Die aktuelle Anti-Islam-Bewegung ist der Versuch, aus den europäischen Bevölkerungen ein Volk zu machen, die Erfüllung des „arischen Mythos“ von der Einheit eines weißen, christlichen Abendlandes (seit der Reconquista verbindet sich im europäischen Unbewussten das Wort für Muslims mit schwarzer Hautfarbe: Mauren = „Mohren“).
Während im Herbst 1989 der „Wir sind das Volk!“-Chor zunächst noch als populistische Antwort auf ein absolutistisches Der-Staat-bin-ich-Gebaren des realsozialistischen Herrschaftspersonals missverstanden werden konnte, ist die Rückkehr des Slogans auf die politische Bühne im Herbst 2014 unmissverständlich eine Wir-sind-die-Herren-im-Haus-Kampfansage, die sich nur insofern gegen die Herrschenden richtet, als diese dem Volk im ersten Sinne (den Marginalisierten, MigrantInnen, Geflüchteten) zu sehr entgegenkommt aus der Sicht des wahren Souveräns, sprich: des Volx. Keine deutsche Demo ohne den Verweis, Demokratie hieße „Volks-“ oder wenigstens „Volxherrschaft“ und das seien doch schließlich „wir“ (nicht die ohne Papiere oder arische Urgroßeltern). So spricht der Volxmund, da hilft auch kein autonomes X. Selbst das kann uns kein U vormachen mit dem naiven Versuch, durch ein bisschen Punkigkeit dem alten Souverän ein Schnippchen zu schlagen und eine Vokü-Community von Freax zu beschwören: Volxtanz Pogo, Volxsport Luxuskarren abfackeln usw. Insofern muss man auch den Linx-Populismus der Punx als Produkt von Kohls „geistig-moralischer Wende“ betrachten, die dem alten Souverän schließlich doch noch zur Wiederauferstehung verholfen hat. Heute benutzen sogar Nazis das X – Spaß muss sein! Es gibt eben keine Subversion der Codes, die nicht subvertiert werden könnte. Eine Hinterlist der Geschichte: Immer wieder hat die Linke den Mythos beschworen vom Volk, das vereint nicht besiegt werden könne. Dabei ist das Volk vereint immer schon besiegt – oder anders gesagt: das vereinte Volk ist das Volk, das ausschließt, nicht das der Ausgeschlossenen. Es ist ein Verein: ein e.V. (zu dem kann auch nicht jedeR gehören).
Zum vereinten Volk gehört immer einer, der es vereint hat – dieser EINE, das ist in der Regel der Leviathan, sprich: der Staat. Nietzsches Satz, wo es noch Volk gäbe, hasse es den Staat, muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden: wo es noch Volk gibt, sehnt es sich nach dem Staat. Es gibt kein Volk vor dem Staat – das Volk entsteht mit dem Staat, durch den Staat und für den Staat. Die Guerilla bewegt sich nicht im Volk wie ein Fisch im Wasser, sondern zappelt schon im Netz der Macht. Die zapatistische Guerilla berief stattdessen 1996 ein intergalaktisches Treffen ein, eine extraterrestrische Kontaktaufnahme „gegen Neoliberalismus und für Menschlichkeit“. So wird aus dem X schließlich doch noch ein U: ein UFO aus dem Dschungel. Kein Ur- sondern ein Unvolk: ein undeutsches Unwort, das sich quer stellt gegen jede Querfront – die radikale Antikratie (ein Wort, das nicht mal Google kennt und es stattdessen mit Autokratie verwechselt). Es geht aber weder um Auto- noch um Demokratie – wer gegen Herrschaft ist, muss auch gegen das Volk sein. Nicht Volx- von -herrschaft trennen, sondern -gemeinschaft von Volx-, zum Beispiel indem man es nur noch im Plural auftauchen lässt. Das Gute an Gemeinschaften ist, dass sie nicht einfach gegeben sind, sondern hergestellt werden müssen. Sie stellen sich her, indem sie tätig werden, indem sie vergemeinschaften. Sie werden der Gegenbegriff zum Eigentum – jeglichen Eigentums, eben auch des Volx-. Denn das Volk war immer eigen – und dabei extrem -tümlich. Wer unbedingt tümeln will, soll das tun. Alle andren sind Volker: 2, 3, viele V’s…
Erschienen in: Markus Liske & Manja Präkels (Hg.): Vorsicht Volk! Oder: Bewegungen im Wahn? (Verbrecher-Verlag)
und als Beilage der Jungle World Nr. 39/15 am 24.09.15
vorgetragen als textz mit beatz mit Sascha Sulimma im ZUKUNFT/Ostkreuz am 26.09.15