In der bisherigen Berichterstattung über WikiLeaks und Cablegate wird eine entscheidende Frage noch nicht gestellt: Hat dieser Fall eine nachhaltige Dimension? Und wenn ja, welche? Die Antwort auf diese Frage, so Christoph Bieber, ist nicht in den Inhalten der Depeschen zu suchen. In seinem Beitrag zu unserem Jahresschwerpunkt WAS BLEIBT? zeigt der Politikwissenschaftler: Die nachhaltige Wirkung von WikiLeaks liegt in der Neu-Organisation öffentlicher Kommunikation.
Dauerhaft und nachhaltig sind vor allem die Wirkungen, die von WikiLeaks.org und Julian Assange ausgehen. Das Netzwerk und dessen Galionsfigur sind die Fixpunkte in einem höchst dynamischen Umfeld, in Kürze werden sie wohl ergänzt um eine ganze Reihe von WikiLeaks-Klonen, allen voran die Open Leaks-Initiative um Daniel Domscheit-Berg.
Medien, Machtverschiebungen und die scheinheilige Frage ob Assange Journalist sei
Die nicht selten ins Feld geführte Frage, ob Assange ein Journalist und WikiLeaks.org ein Medienunternehmen sei, ist scheinheilig. Denn diese Frage gründet sich auf Kategorien von Öffentlichkeit und Mediendemokratie, die auf den Leitmedien des 20. Jahrhunderts basieren. Dieser Ansatz ist zum Scheitern verurteilt, denn er verkennt das disruptive Potenzial von WikiLeaks als Ereignis und Struktur.
WikiLeaks ist ein Beispiel für die Machtverschiebung bei der Gestaltung von Medienöffentlichkeit. Der Fall WikiLeaks zeigt, wie weit die Transformation der elektronischen Massenmedien inzwischen vorangeschritten ist – das gilt einerseits für die explizit journalistische Dimension, andererseits aber auch für die wachsende Bedeutung einer technisierten Informationsübermittlung in Computernetzwerken, die mit alten Beschreibungsmodellen überhaupt nicht mehr adäquat erfasst werden kann.
Die Gestaltung von Öffentlichkeit vollzieht sich hier eben nicht mehr durch die Entwicklung von “Medienformaten” die zum Versand geeignet sind – sondern im Umgang mit großen Datenmengen und der Programmierung neuer Werkzeuge, die deren Darstellung und Verständnis erleichtern.
Die schlappe Diskussion in Deutschland
Konkret beschäftigen sollte uns in Deutschland aber nicht nur das Phänomen WikiLeaks, sondern auch die öffentliche Debatte darüber. Im angelsächsischen Raum wird nichts weniger als die Zukunft von Journalismus und Öffentlichkeit verhandelt. Hierzulande dominieren jedoch die Celebrity-Geschichten rund um Julian Assange als – zugegebenermaßen – aufmerksamkeitsökonomisch interessante Figur.
Vielleicht bringt der Zugriff der WELT auf WikiLeaks-Materialien eine neue Dynamik in die schlappe Diskussion im deutschsprachigen Raum: die Tageszeitung hat vollmundig angekündigt, man habe das Wikileaks-Kartell gebrochen und damit dem SPIEGEL den Status als Premium-Partner von WikiLeaks-Informationen genommen. Dies deutet zumindest an, dass die Medienberichterstattung bisher hinter den Erwartungen an eine plurale demokratische Öffentlichkeit zurückgeblieben sein könnte.
(Anm. d. Red.: Das in der ursprünglichen Version verwendete Wort “Kartell” wurde von der WELT inzwischen durch das Wort “Monopol” ersetzt. Eine Google-Suche nach “Wikileaks-Kartell Welt” listet eine URL auf den Originaltext auf, der Link führt allerdings ins Leere)
Ein Comeback der Hinterzimmerpolitik?
Lektionen des Lecks (Hans Hütt) lassen sich auch im politischen Bereich ziehen. Hier geht es im wesentlichen um Transparenz und Informalität. Der radikale Anspruch, alles sichtbar machen zu wollen, kann dabei auch als Spiegelung der Rede von “offenen Daten” gelesen werden – die dahinter liegende Idee einer Verwaltungsmodernisierung durch die schrankenlose Bereitstellung von öffentlich verfügbaren Informationen findet in Deutschland nur in der Nische statt. In den USA und Großbritannien konnten sich bereits Projekte unter dem Motto “Opening Up Government” etablieren.
Mit Sorge betrachten viele schließlich die unmittelbaren Effekte der WikiLeaks-Affären auf die konkrete Praxis politischer Kommunikation. Steht nun eine “Renaissance der Geheimniskrämerei” bevor? Finden Gespräche zwischen Diplomaten und Politikern nun tatsächlich nur noch im analogen Sicherheitsraum hinter vorgehaltener Hand statt? Feiert das sprichwörtliche Hinterzimmer ein Comeback als zentraler Kommunikationsraum? Manches spricht jedenfalls dafür, dass es sehr viel stärkere Normen, Regulierungen und Sanktionen für das unbedachte politische Wort geben wird. Welche Auswirkungen dies für das Verhältnis zwischen Bürger und Politik, mithin also die politische Kultur haben wird, ist noch offen.
Mündige Bürger – auch im Netz
Ich denke, dass sich in dieser Phase die Bedingungen für politische Partzipation grundlegend ändern. Bürgerseitiges Einmischen ist nicht mehr nur entlang der üblichen Formate und Routinen möglich, dies deuten die Online-Aktivitäten im Umfeld der Castor-Transporte oder der Stuttgart21-Debatten längst an. Allmählich öffnen sich sogar Gremien wie Enquête-Kommissionen für Input aus der Bevölkerung und verändern langsam den parlamentarischen Prozess. Und wer fragt, wie Individuen in komplexe politische Prozesse intervenieren und sie beeinflussen können, der fragt auch nach dem Rollenmodell des “öffentlichen Intellektuellen”.
Das Prägen von Diskursen mit potenziell gesellschaftsweiter Tragweite gelingt nicht mehr nur über das Schreiben von Büchern, Kommentaren oder Leitartikeln (oder in Einzelfällen auch durch die Produktion von Filmen, TV-Reportagen oder, ja, Talkshows). Nein, seit 2010 ist auch ein computer-basiertes “Einprogrammieren” in das öffentliche Bewusstsein möglich. Vermutlich verhilft dies der Kulturtechnik des “Coding” zur Salonfähigkeit. In Anlehnung an den Philosophen Vilém Flusser bringt es Medienkritiker Douglas Rushkoff in seinem Essay „Program, or be Programmed“ wie folgt auf den Punkt:
Es ist soweit: wir haben nun mächtige Programmier-Werkzeuge zur Hand. Trotzdem begnügen wir uns damit, lediglich die Möglichkeiten der letzten großen Medieninnovation auszunutzen – der Kulturtechnik des Schreibens. Wir sind stolz, wenn wir eine Webseite bauen können oder unser Profil in einem Sozialen Netzwerk vervollständigen. Für die meisten von uns ist dies schon der Eintritt in die Online-Gesellschaft. In Wirklichkeit aber bleiben uns die Tücken der Programme verborgen, mit denen wir unseren Alltag im Netz bestreiten. Und genau das gilt auch für die Art und Weise, mit der uns die Programmierer die Chancen einer aktiven Einmischung in eine von ihnen diktierten öffentlichen Agenda vorenthalten.
Das wäre der eigentliche Intervention des Julian Assange: Anklage, Kontrolle und Herausforderung der Machthaber im binären Code von Null und Eins.
Anm. d. Red.: Der Verfasser hält am 14. Februar 2011 den Eröffnungsvortrag der Tagung Öffentlichkeit, Medien und Politik – Intellektuelle Debatten und Wissenschaft im Zeitalter digitaler Kommunikation am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.
20 Kommentare zu
( http://www.spiegel.de/netzwelt/ )
Warum wird da nichts darüber geschrieben?
Auch bei Telepolis ist da herzlich wenig zu finden...
Liegt das am Ansatz? Weil der inhaltlich ist? also immer auf der Hut nach einem neuen Detail aus den Depeschen, dass skandalträchtig ist?
hmm...
( http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,741101,00.html )
vielleicht müssen wir klar kommen, dass der journalismus in deutschland sich geändert hat und anspruchsvolle themen in neuer weise anspruchsvoll bearbeitet werden, a la hollywood zB
apropos: begrifflichkeiten des 20. jahrhunderts hinter sich lassen...
Relevant, was ist das? in diesem Fall?
zum Beispiel die Geschichte des Bradley Manning:
http://www.greenleft.org.au/node/46480
Hier spricht der Ex-WikiLeaks-Sprecher und jetzige Ko-Gründer von Open Leaks über sein neues Projekt, zuerst gibt er zu verstehen, dass er eigentlich nicht darüber reden mag, später jedoch lässt er sich erweichen. Es wird ziemlich deutlich, worin der Unterschied von OpenLeaks zu WikiLeaks besteht:
Es geht weniger um einen "Hack" als vielmehr um eine dauerhafte Struktur, die Vernetzung in breite Teile der Bevölkerung erlaubt:
http://mirror.fem-net.de/CCC/27C3/mp3-audio-only/27c3-4206-en-immi_from_concept_to_reality.mp3
Hier ein Hinweis zu einer Veranstaltung der Böll-Stiftung zum Thema:
“WHISTLEBLOWING, WIKILEAKS UND DIE NEUE TRANSPARENZ
Gespräche zur Netzpolitik”
Datum: Dienstag, 8.02. 2011, 20 Uhr
Ort: Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin
Eintritt frei
Mit: Daniel Domscheit-Berg, OpenLeaks.org / Ex-WikiLeaks-Sprecher, Constanze Kurz, Informatikerin und Sprecherin des Chaos Computer Clubs (angefragt) Konstantin von Notz, MdB, Bündnis 90/Die Grünen Moderation: Daniel Schulz, Ressortleiter taz2/Medien, die tageszeitung
Spätestens seit der Veröffentlichung der US-Botschaftsdepeschen durch WikiLeaks ist Whistleblowing in aller Munde. Dabei ist das Leaken von geheimen Informationen nicht erst seit WikiLeaks ein
wirksames Mittel zur Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz.
Der wohl berühmteste Fall ist die Watergate-Affäre in den
frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Durch die Digitalisierung ist die Veröffentlichung geheimer Informationen einfacher geworden: während in den 70ern noch nächtelang Dokumente abfotografiert oder fotokopiert werden mussten, reicht heute ein USB-Stick, um tausende von Dokumenten zu vervielfältigen. Whistleblowing-Plattformen ermöglichen dann die anonyme Verbreitung dieser Informationen.
Welche Auswirkungen hat die neue Transparenz auf die Gesellschaft? Wie muss eine ideale Whistleblowing-Plattform aussehen, die nicht die Fehler von WikiLeaks wiederholt? Wie verändert sich der investigative
Journalismus durch diese Plattformen? Wie kann zur Förderung öffentlicher Transparenz eine sinnvolle Zusammenarbeit der politischen, gesellschaftlichen und medialen Akteure aussehen?
Live im Internet unter http://www.boell.de/stream
( http://www.spiegel.de/thema/wikileaks/ )
@angelika p.: andere sorgen oder anderes zu tun, zum beispiel bücher lesen, wie das neue spiegel buch über wikileaks, markus beckedahl empfiehlt es in netzpolitik, vielleicht sind bücher bei der frage über nachhaltigkeit bislang nicht aussreichend gewürdigt worden, oder?
http://www.netzpolitik.org/2011/staatsfeind-wikileaks/
@fast alle: die "qualitätsschere" bezieht sich weder allein auf die menge, die journalistisch-technisch aufbereitung oder die "farbe" (information oder infotainment) der beiträge. ich meine eher die "meta-ebene" der debatte: welche folgen haben die entwicklung und etablierung von wikileaks für den umgang mit sensiblen daten, sowohl auf seiten der informations-lieferanten wie auch der journalistischen bearbeiter.
@ascii: auch die deutschsprachigen bücher führen die debatte nur ansatzweise fort, meist handelt es sich dabei um die zusammenführung schon veröffentlichten materials in neuer form. das gilt zu großen teilen sowohl für die spiegel-publikation wie (leider) auch den suhrkamp-band (vgl. http://www.suhrkamp.de/buecher/wikileaks_und_die_folgen-_6170.html). tatsächlich neue impulse sind auch hier aus den USA zu erwarten, zB durch micah sifrys versuch über "das zeitalter der transparenz" (http://www.orbooks.com/our-books/wikileaks/).
http://gutjahr.biz/blog/2011/01/openleaks/
http://www.dctp.tv/#/dld-2011/openleaks/
"WikiLeaks sorgt weiterhin weltweit für Wirbel – das Beispiel Indien"
http://blog.zeit.de/leaks-blog/2011/03/23/wikileaks-sorgt-weiterhin-weltweit-fur-wirbel-das-beispiel-indien/