• Ein neuer Titel fuer Deutschland

    Bis zum vergangenen Donnerstag sagte mir >Vanity Fair< nichts. Zwar hatte ich von William Makepeace Thackerays Satire auf die Londoner Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehoert. Dass aber in den USA auch ein Hochglanzmagazin unter diesem Titel erscheint, war mir neu. Die englischsprachige Ausgabe verbindet Promiklatsch mit Politik und wird vor allem von gut verdienenden Amerikanerinnen gelesen. An diesem Format orientiert sich auch die neue deutsche Ausgabe – eine Art Mischung aus Gala und Spiegel.

    Ich verbringe zu wenig Zeit in Wartezimmern, um eine fundierte Meinung zu Magazinen wie Gala zu haben. Meine Grosseltern sind zu alt, um Gala zu lesen, und meine Freundinnen zu geizig. Maenner, die sich fuer solche Themen interessieren, waren mir immer suspekt. Wozu also ein neues Magazin kaufen, das ganz offensichtlich Klatsch und Tratsch mit farbigen Anzeigen aufpeppt? Dennoch war ich neugierig auf das erste Heft, hatte ich doch lange Rezensionen und Verrisse gefunden. >Vanity Fair< sei als >Wochenmagazin fuer die junge, gutverdienende, gebildete Elite< konzipiert, schrieb etwa der >Tagesspiegel<. Spaetestens seit dem Hype der Unterschichten-Debatte zieht das gegengerichtete Etikett >Elite<. Wer dazugehoeren will, kauft >Vanity Fair< zum Kampfpreis von einem Euro. Du bist, was Du liest – und elitaer zu sein, ist neuerdings angesagt.

    Der Chefredakteur von >Vanity Fair<, Ulf Poschardt, hat offenbar angekuendigt, die folgenden Ausgaben wuerden teurer. Nachdem aber auch die >Zeit< der neuen Publikation eine ganze Seite gewidmet hatte, stand fest: Ich muss >Vanity Fair< kaufen und zwar sofort. Ich – Opfer der Schleichwerbekampagne. >Vanity Fair< wird massiv beworben. Nicht nur in Mitte haengen riesige schwarze Plakate an Haeuserfassaden – auch in Friedrichshain und Kreuzberg. Selbst in Neukoelln prangt der goldene Schriftzug >Vanity Fair< auf allen Werbetafeln.

    Beim Zeitungskiosk in der Oranienstrasse war das Heft ausverkauft. Das hatte ich befuerchtet. Ein zweiter Versuch am Samstag in Neukoelln bei drei weiteren Kiosken verlief ebenfalls erfolglos. >Keine Chance Madame, Sie sind zu spaet dran<, sagte der erste Haendler. Der zweite gab mir zu verstehen, er verkaufe keine Hefte pornografischen Inhalts und ein nackter Til Schweiger mit Ziegenbaby im Arm sei eine Zumutung. Dem war nur zuzustimmen. Neugierig war ich trotzdem. Karstadt am Hermannplatz war meine letzte Hoffnung. Auch dort nichts – >80 Magazine haben wir allein am Donnerstag verkauft, dann am Freitag gleich alle sechzig Nachbestellungen<, hiess es dort. Die naechste Ausgabe werde am Donnerstag erscheinen, ich solle Montag in aller Fruehe wiederkommen und mir ein Heft der letzten Lieferung von Ausgabe eins sichern. >Sichern?< Sicherlich nicht. Ich will nicht mehr.

  • Schneefeuer

    Es ist Freitagnacht. Ich komme aus der S-Bahn. Schneeflocken legen sich auf meine Jacke, meinen Schal, meine Muetze. Sie huellen mich ein, umwehen mich. Genauso den Alexanderplatz. Er ist so weiss, dass es fast weh tut, hinzuschauen. Hinter mir steht der Fernsehturm. Ich kann seine Kugel kaum mehr ausmachen, so verschneit ist alles. Doch die roten Blitze, die der Turm durch die helle Nacht schickt, sind gerade noch zu sehen. Ich muss ueber den Platz gehen, zur U-Bahn. Der Schnee knirscht vermutlich unter meiner Last, hoeren kann ich es nicht. In meinen Ohren stecken die Kopfhoerer meines MP3-Players. In meinem Kopf laeuft der Soundtrack fuer diesen perfekten Moment.

    Ich hoere einen Elektroorgel-Ton, schon setzt ein Klavier ein. Hohe Toene klimpern vor sich hin. Gloeckchen-Sound. Leise, taenzelnd, wie Schneeflocken. Von irgendwo her kommt ein dumpfer Geigenklang dazu. Ein pathetisches E-Gitarrenriff. Geschaeftigkeit ohne Ende. Irgendwann schweissen sich Klavier und E-Gitarre zu einer Melodie zusammen. Nur eine Sekunde spaeter setzt die bass drum ein. Dazu eine Maennerstimme, die fast fluesternd singt: And if the snow buries my, my neighborhood. Ich muss laecheln, so gut passt der Song zum Moment. Die Stimme wird lauter, die bass line treibender. Ich habe das Gefuehl, dass ich anfangen sollte zu laufen. Ich renne ueber den Platz, singe laut mit: Then our skin gets thicker / from living out in the snow.

    Angekommen. Ausser Atem. In der U-Bahn schaue ich in die Gesichter der Menschen, waehrend der Song ausklingt. Alle sind unterwegs. Vermutlich nach Hause oder zur naechsten Party. Fuer einen ganz kurzen Moment bekomme ich so ein Heimweh-Gefuehl. Das liegt vermutlich an der Musik von Arcade Fire. Der naechste Song kuendigt sich schon an. Kurz durchatmen. Mehr ist nicht. Oh, da ist mehr.

  • Das wertvollste Ergebnis meiner Schulzeit

    Mein Hang zum Selbststudium geht auf meine Zeit in der Bismarckschule zurueck, einem UNESCO-Gymnasium in Hannover. Am von Hitler gebauten Maschsee gelegen, steht der Bau auch heute noch in unmittelbarer Nachbarschaft der Waldorfschule und direkt gegenueber der Tellkampfschule, wo die Kiffer eingecheckt hatten und jene, die immer wieder gerne protestierten – Giovanni di Lorenzo hatte dort Abitur gemacht. Unsere Lernumgebung war vergleichsweise konservativ.

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  • Konsumiere Deine Kritik!

    Junge, rebellierende Menschen ziehen durch die Strassen. In ihren Gesichtern drueckt sich Empoerung aus, in ihren Haenden halten sie Plakate mit Forderungen wie>Plant More Flowers!< oder>Legalize The 4-Day-Weekend!<; sie recken ihre Faeuste. An ihren Koerpern T-Shirts, abgetragene Lederjacken, um den Hals geschlungene Wollschals, blinkende Nietenguertel und natuerlich Jeans, immer irgendwie verwaschen oder von anderen Abenteuern gezeichnet, laessig einige Zentimeter unterhalb der schlanken Hueftknochen haengend. In ihrer Erscheinung duerfte die Szenerie, auf einer Fotografie abgebildet, eine vertraute sein. Vielleicht ist es die Presseaufnahme von Globalisierungs- oder Kriegsgegnern irgendwo in Kanada oder Brasilien, vielleicht auch eine Aufnahme der Studentenproteste der 68er. Nicht ganz: Der dargebotene Protest entstammt einem Werbeplakat von Diesel, mit dem das Unternehmen 2005 unter der Ueberschrift Action fuer seine Jeans geworben hatte. Natuerlich war die Diesel-Werbung nicht die erste, die sich der Praktiken und Symbole jugendlicher Protestkultur bediente, um die Aesthetik der rebellischen Kraft zu Zwecken der Werbung zu nutzen. Neu an dieser Plakataktion war allein die vollstaendige Offenheit, mit der der Konzern auf den urspruenglichen Kontext verwies, aus dem die Codes entnommen worden waren.

    Neu war auch die Radikalitaet der Umdeutung der Zeichen – die eigentliche Aussagekraft politischer Forderungen wurde als eine bloss aesthetische dargestellt. Diese Werbung geriet damit zum besten Beispiel fuer das, was bekanntes Inventar postmoderner Zeitkritik ist und unter anderem vom britischen Literaturwissenschaftler Terry Eagleton vielfach verkuendet wurde. Denn es sind gerade die im kritischen Aufbegehren enthaltenen romantischen Sehnsuechte nach einer besseren Welt, die zu Zwecken des Produktmarketings laengst zum unverzichtbaren Instrumentarium der werbenden Industrie geworden sind. Angesichts einer solchen, der Kultur innewohnenden Dialektik, muss zu Recht nach den Moeglichkeiten von Kritik gefragt werden.

  • Eine Bewegung schreibende Schrift

    Im ICE nach Freiburg hatte ich kuerzlich eine besondere Begegnung: In meinem Abteil reiste eine Gruppe gehoerloser Jugendlicher, die sich lebhaft miteinander unterhielten. Sie benutzten dazu die Gebaerdensprache, die fuer einen Hoerenden immer etwas Vertrautes und Fremdes zugleich hat. Das Schoene an dieser Sprache ist, dass die Menschen gezwungen sind, einander anzusehen, wenn sie sich etwas zu sagen haben. Sie funken einander Zeichen, die sich zusammensetzen aus gestischen und mimischen Elementen – eine Kommunikationsform, die in Deutschland nach langem Kampf im Jahr 2001 endlich gesetzlich anerkannt wurde.

    Mittlerweile gibt es verschiedene Methoden, die Gebaerdensprache schriftlich zu fixieren. Im Grunde funktioniert das wie bei der Notation von Choreografien: eine Bewegung schreibende Schrift, mittels genau definierter Piktogramme. Wie die Lautsprache unterscheidet sich auch die Zeichensprache von Land zu Land, es gibt die Deutsche, die Franzoesische, die Oesterreichische Gebaerdensprache, die American Sign Language und als Reaktion auf die viel gepriesene Globalisierung in zunehmendem Masse auch die Internationale Gebaerdensprache. Aber was passiert, wenn die Kultur, in der ich lebe, mit der ich mich identifiziere, vor allem an das gesprochene Wort gebunden ist, das ich nicht hoeren kann?

    Theater, Konzerte, Kino, Konferenzen – all das bestimmt den Alltag von Menschen mit gesunden Sinnesorganen. Und so gibt es unter den Gehoerlosen eine ganz eigene Kultur, die sich auf Veranstaltungen wie den alle vier Jahre stattfindenden Deutschen Kulturtagen der Gehoerlosen oder dem Berliner Gebaerdensprachfestival Raum verschafft. Einmal mehr die Gelegenheit, seine Wahrnehmungsdimension ein wenig zu oeffnen fuer eine ganz andere und doch vertraute Welt – mit Fragen und Problemen, die einem noch nie in den Sinn gekommen sind, aber auch mit denjenigen, die sich jedem Menschen, ob blind, taub oder gesund einmal stellen.

  • Charlotte Chronicles.24 [xxl seduction]

    Wie viele andere Dinge verkaufen sich auch Essen und Getraenke in den USA mehr ueber ihre Aufmachung als den aktuellen Inhalt. Ueber den beruechtigen [Naehr]Wert des Essens in den USA brauche ich wohl nicht viele Worte zu verlieren. Wahre Meisterwerke sind nicht unbedingt die Gerichte, sondern ihre Ankuendigung. Man muss nicht einmal edle Restaurants aufsuchen, damit einem beim Lesen der Speisekarte das Wasser im Mund zusammen laeuft. Dass sich hinter der >chicken breast marinated in our signature Honey Barbecue Sauce, topped with tasty melted Monterey Jack cheese and exquisitely smoked bacon, served in a sesame bun< lediglich ein Chicken Burger nur knapp ueber McDonald’s-Niveau verbirgt, glaubt man mit hungrigem Magen einfach nicht und erliegt den von Marketingexperten formulierten Verlockungen. Auch der visuelle Aspekt dominiert ueber gesundheitliche Ueberlegungen: Aepfel werden in vielen Supermaerkten mit einer feinen Wachsschicht ueberzogen, damit sie genauso glaenzen wie die perfekten Zaehne der potentiellen Konsumenten.

    Die Grundversion vieler Produkte ist relativ teuer, wer aber die vielen Zusatzangebote wahrnimmt, bekommt einen guten >deal< fuer das Gesamtpaket; so als gaebe es eine >low consumption tax<. Ein >medium coffee< bei Starbucks oder Caribou Coffee ist erstens ziemlich klein und zweitens verdammt teuer. >Large coffee< hoert sich dagegen nicht nur besser an, sondern ist auch kaum teurer. Fuer wenige weitere Cents koennte man gleich zu einem >extra large coffee< greifen, genauso wie man beim Kauf eines Burgers durch eines der diversen >Combo<-Angebote gegen einen geringen Aufpreis noch >French Fries< und ein Getraenk dazu bekommt. Die Zusatzkosten fuer extra Kaese und Schinken sind ebenfalls so laecherlich klein, dass ein Verzicht darauf aus oekonomischer Sicht eine Suende waere. >Double meat< ist nur ein paar weitere Cents entfernt und eh man sich versieht, kauft man nicht nur Kaffeebecher und Burger sondern auch Kleidung im XXL-Format.

    Das Angebot ist so vielfaeltig, dass die Wahl oft zur Qual werden kann. Staendig muessen neue Produkte auf den Markt kommen, da die alten schon nach kurzer Zeit langweilig geworden sind. Eine Bestellung, a la >ein Kaffee, bitte<, wie ich sie aus dem letzten Jahrtausend in Deutschland kenne, funktioniert vielerorts nicht mehr. Wer nicht gleich ein hippes Produkt wie die >Mint Condition< (a delicious blend of mint, espresso, cocoa, and whipped cream) bestellt, muss sich durch einen langen Fragenkatalog arbeiten:
    >From which region would you like your coffee?<
    >Hm, let me think… heard that Colombian coffee is good.<
    >Absolutely, Sir. Dark roast or a multi-region blend?<
    >I don’t know. Just give me coffee!<
    >I sure will, Sir. What type of milk would you like with your coffee?<
    >I guess coming from a cow.<
    >Skim milk, vitamin D, cream or low fat?<
    >Forget it. Do you have tea?<
    >Sure, we have Chai Tea Latte. A fantastic blend of oriental spices. What kind of milk would you like with your Chai?<
    >Aarrgh…<

  • Die Zukunft ist jetzt

    Ein Verbrechen zu verhindern, bevor es geschieht: Klingt gut! Potentielle Kriminelle zu bestrafen, bevor sie eine Untat begehen: Klingt eigentlich auch gut! Prophylaxe hat sich schon immer bewaehrt. Jemanden zu verurteilen fuer etwas, dass er noch gar nicht getan hat, aber ganz sicher tun wird: Ist verstaendlich. Aber die Tat wird dann gar nicht stattfinden, er wird also bestraft fuer etwas, das in der zukuenftigen Gegenwart ueberhaupt nicht geschieht…? Berliner Gazette-Lesern duerften solche Gedanken bekannt vorkommen: In seinem juengsten Beitrag erzaehlt David Rice, US-amerikanischer Si-Fi-Satiriker, die Geschichte vom zweijaehrigen Jake Fritter, der dank neuer Technologien eines in der Zukunft stattfindenden Mordes schon jetzt ueberfuehrt werden konnte.

    Das Ganze funktioniert ungefaehr so: Ein PC der Gegenwart wird mit einem zukunftsbasierenden PC verknuepft – das so genannte Zeitverknuepfungsnetzwerk ist aktiviert. Dort wird die Anfrage aus dem Hier und Jetzt bearbeitet und die entsprechende Information zurueck in unsere Zeit geschickt. So konnte man beweisen, dass Jake Fritter in 30 Jahren ein verbrecherisches Leben fuehren und, sollte dem nicht sofort Einhalt geboten werden, sich vor Gericht des Mordes verantworten wird muessen. Ergebnis: Das Opfer eines potentiellen Moerders wurde gerettet. Die Idee der Zeitverknuepfung liegt auch Rice’ Projekt Future Feed Forward zugrunde. Nur geht es hier nicht um praeventive Verbrechensbekaempfung, sondern um ueberraschende Perspektiven auf die Gegenwart. Entsprechend spielt sich bei FFF alles in der Zukunft ab: The future is our product. We sell tomorrow’s information today. Unter diesem Motto bieten sich dem Besucher Nachrichten im Zeitungsstil an.

    Im Artikel Bush II Never President aus dem Jahr 2081 erfaehrt man beispielsweise, dass Bush laut einer langjaehrigen Studie niemals der 43. Praesident der USA gewesen ist. Einen groesseren Ueberblick ueber die kuenftigen Ereignisse bis zum April 2202 bietet die Timeline. Das alles ist nun aber nicht einfach nur dazu da, um bestaunt zu werden. Vielmehr wirkt es bisweilen so, als wollten diese Informationen, die quasi unsere Kinder und Kindeskinder uns liefern, den Leser aufruetteln sollen: Wenn wir wissen, was geschehen wird, taeten wir doch gut daran, dieses oder jenes zu verhindern, bzw. zu foerdern? Doch was ist, wenn es gar nicht die Zukunft ist, die da zu uns spricht? Sondern unsere eigene Gegenwart, ad absurdum? (Anmerk. d. Red.: Geben Sie mal David Rice als Stichwort in der Volltextsuche ein; dort finden Sie einige Texte von ihm, die bei uns bereits auf Deutsch erschienen sind und sich noch immer so frisch lesen wie gestern.)

  • Der Leser von morgen: Subcomandante Marcos, Geert Lovink und Web 2.0

    Was haben Subcomandante Marcos und Geert Lovink über die Zukunft des Lesens zu sagen. Krystian Woznicki hat sich im Web 2.0 nach Antworten umgeschaut. weiterlesen »

  • Warum ich Luhmann verstehe?

    Erstmal. Ich verstehe gar nix. Luhmann ist, sozialisationsbedingt, baeh (kurzes >ae<). Was ich dann verstehe, ist so banal, dass es kaum zu glauben ist, dass das vorher niemand so gesagt haben soll. Zum Beispiel: Beobachtet man das reformierte System, hat man den Eindruck, dass das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs fuer weitere Reformen ist. (Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 166.) Das entspricht so recht eigentlich der normalen Erfahrung. Aber selten hat man es gelesen. Wahrscheinlich ist es nicht empirisch nachgewiesen und daher erst mal nicht glaubwuerdig.

    Ueberhaupt mache ich die Erfahrung, dass, wenn man beispielsweise den Adorno zur Theoretisierung der praktischen Welt heranzieht, dies von der angesprochenen Seite als >alte 68er<-Sache abgetan wird. Die Welt sei nun mal heute anders. Nicht wahr. Und all das gildet eben nicht mehr. Sagt man dann aber sowas wie Derrida oder Luhmann, Bourdieu oder Habermas, dann wird man ernst genommen. Denn die sind ja noch halbwegs aktuell. Die Kraft des Arguments steigt mit dem Label. Also Adorno, ich meine, Luhmann: Die wichigste Ressource der Reformer scheint daher eine Leistung des Systemgedaechtnisses zu sein, naemlich das Vergessen. (Ebd. S. 167.)

    Man kann diesen ganzen Passus, Seiten 165-167, wie eine einzige Satire lesen. Unmittelbar prickelnd, nach links und rechts gleichermassen austeilend. Intelligente Verarsche hoere ich da aus dem Hintergrund murmeln. Sind Luhmann und Loriot am Ende die gleichen Personen? Also, ich verstehe diesen Luhmann mittlerweile sehr, wenn ich mal ueber den Spezialjargon hinweggehe. Oder habe ich nicht doch nur wieder Adorno zitiert? Das wuerde mich jetzt gar nicht wundern. Nicht: Isolierte paedagogische Reformen allein, wie unumgaenglich auch immer, helfen nicht. (Luhmann oder Adorno, na einer von beiden bestimmt).

  • Unterschriften gegen die Vereinzelung

    Vor kurzem ging ein Aufruhr durch New York: Die haesslichen tags in der Subway sind wieder da! Nachdem lokale Graffiti-Kuensler schon lange die Finger davon lassen die U-Bahn mit ihren Markierungen zu verzieren, sind es nun Touristen (Nicht-New-Yorker), die nachts in Bahnhoefe einbrechen und ihre Botschaften hinterlassen. Diese werden dann mit der Digicam abgeknipst und auf YouTube online gestellt – so verbreitet sich der fame schneller. Unter den neuen tag-Kuenstlern sind auch viele Deutsche, wie zum Beispiel Biser, der so subtile Nachrichten hinterlaesst wie Hi from Berlin!. Aufgrund dieser hohen Deutschquote, hat die New York Times mal eben den Neologismus guten – tagger kreiert. Mit dem Zusatz: Verschwindet schnell wieder!.

    Dass das tag-movement in Deutschland schon eine Evolutionsstufe weiter ist, hat im Big Apple allerdings noch keiner zur Kenntnis genommen. Immer diese Selbstbezogenheit! Der Kuenstler Stefan Beck laesst sich davon nicht beirren. Er hat zusammen mit The Thing das Projekt tagcity gestartet. Hier hinterlaesst man keine Kritzeleien, sondern Barcodes in oeffentlichen Raeumen. Diese koennen mit einem internetfaehigen Handy entschluesselt werden. Der Handynutzer kann auf diese Weise etwas ueber die Geschichte der getaggten Orte erfahren und selbst Kommentare hinterlassen. Demnaechst soll es auch moeglich sein, Videobotschaften oder Musik zu taggen.

    Falls tagcity irgendwann mal in meiner Heimatstadt Pritzwalk Einzug halten sollte, koennte ich einen tag an jenem Baum hinterlassen, unter dem ich damals meinen ersten Kuss bekam. Die entschluesselte Botschaft wuerde jenes Gedicht preisgeben, das ich damals aus diesem Anlass geschrieben hatte. Frueher haetten wir vermutlich ein Herz in den Baum geritzt, schoen krakelig mit unseren Initialen in der Mitte. Die Zeiten aendern sich halt. Vielleicht sollte man das auch mal den New Yorkern fluestern – oder besser: taggen. Nicht das die sich eines Tages wundern, dass die Graffitis verschwunden sind, und alle nur noch mit ihren Handys beschaeftigt sind, die Stefan Beck mit seiner tagcity-Software infiziert hat.

  • Geduld für Teilhabe

    Entschleunigung und nicht Beschleunigung lautet das Gebot der Stunde. Entgegen der haeufig geaeusserten Prognose vom Wettlauf gegen die Zeit glaube ich das. Und das schreibe ich auch, obwohl ich menschliche Grundtechniken wie Reden, Lesen, Essen und Gehen schnell taetige und mich Menschen mit langsamen Zungenschlag in Stress versetzen. weiterlesen »

  • Zeit neutralisieren

    Bei der “Zeitspar-Show”, unserem juengsten experimentellen Buehnenformat im “nbi”, ging es uns darum, einen Abend zeitneutral auszugestalten. Hintergrund war unser schlechtes Gewissen. Ueber die Jahre hatten wir unserem Stammpublikum sehr viel Zeit mit unausgegorenen und schlecht vorbereiteten Shows gestohlen. Von dieser Schuld wollten wir etwas abtragen, was uns gelungen ist. Die Show sollte mehr Zeit einsparen, also mehr einbringen, als sie kostet. Am Ende stand einer Brutto-Dauer von einer Stunde und zwanzig Minuten eine Netto-Zeitersparnis von mehreren hundert Jahren gegenueber. Das Ganze wurde multipliziert mit der Zuschauerzahl. Erreicht haben wir das ueber ein knackiges “Studium generale”, sowie eine Reihe Zeitspartipps, die sich aufsummierten, wie zum Beispiel “beim Losgehen von der Tuer abstossen” oder “warten, bis der Film rauskommt.” weiterlesen »