Roberto Bolaño: Die Nöte des wahren Polizisten
Ich treffe also einmal mehr Roberto Bolaño. Dieses Mal hat er sich zwischen zwei buntfarbigen Buchdeckeln versteckt, dessen vorderer ein beängstigendes, grinsendes Gerippe mit Totenkopf und mexikanisch wirkendem Hut ziert. Als wüsste ich nicht längst, dass das geheime Zentrum seiner Bücher der Tod ist. Solange er gegen diesen Tod anschreibt, gibt es ein Überleben, Schreiben heißt für ihn überleben. Aber es ist ein Schreiben in dem Bewusstsein, dass das am Ende auch nicht helfen wird, zuletzt sind wir alle Verlierer. Diese Melancholie macht uns die Menschen auf den Schattenseiten des Lebens irgendwie sympathisch. Ihr Scheitern ist gleichzeitig heroisch, weil es meist nicht nur ihr selbst verschuldetes ist. In seinem zehnten Todesjahr taucht er also wieder posthum mit einem Roman und dem klapprigen Gebiss einer schrecklichen Vogelscheuche auf. Aber nehmen sie sich in acht vor der überbordenden, grandiosen Erzählkunst, wenn diese Zähne nicht nur klappern, sondern sprechen. Nein, sie sprechen nicht, sie raunen ihr metaphorisch poetisches Lied. Auch nur eine Seite Bolaño lesen ist, als ginge man in einem Traum spazieren. Wer da wen träumt, ist völlig unwichtig, der Leser den Autor oder der Autor seine zukünftigen Leser, vielleicht träumt jeder seinen eigenen Traum und der ist jetzt zu einem Text geworden. Aber es gibt nicht nur die poetische Traumüberhöhung, wir erfahren genauso realistisch etwas über scharfe mexikanische Hühnergerichte oder Basketballspieler in Barcelona.
Auch das Sozialgefüge mexikanischer Polizeistationen und die kriminellen Machenschaften dortiger Drogenclans muss einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen haben, denn niemand beschreibt die Verflechtung von Politik und Verbrechen so plastisch wie er in den gebrochenen Figuren seiner Romane. Im zehnten Todesjahr Bolaños hat sich der Hype beim Erscheinen der englischen und deutschen Übersetzung von “2666” in den Jahren 2008/2009 ziemlich gelegt. Aus meiner Sicht unberechtigt, weil sein Hauptwerk, sein größtes, erzählerisches Vermächtnis, wie kein anderes eine neue literarische Kategorie öffnete, die viele aber lediglich als spezifisch bolañesk begriffen haben, und nicht als das metaliterarische, offene Schreiben, das alle Elemente der Post- und Nachpostmoderne ins 21. Jahrhundert eine Schraube weiter dreht.
Aber kommen wir zu dem gut 260 Seiten langen neuen Band “Die Nöte des wahren Polizisten”. Eingerahmt von einem einleitenden kurzen Essay, der mehr oder weniger versucht eine Brücke zum Gesamtwerk zu schlagen und gleichzeitig die Eigenständigkeit dieser neuen posthumen Romanveröffentlichung plausibel erscheinen zu lassen, und einer editorischen Notiz der Witwe Bolaños, umfasst er fünf Teile (man achte auf die Analogie zu “2666”) und von der ersten Seite an taucht man wieder in den unvergleichlichen Bolaño-Sound mit seinen überbordenden Geschichten ein. Bei meiner lesebegleitenden Besprechung von “Amuleto” schrieb ich, dass seine Romane aus vielen kleinen Prosastücken mosaikartig zusammengesetzt sind, aneinandergereihte Erzählungen, unterbrochen von darin verschachtelten Geschichten, so auch hier. Die Sichtweise, das ganze Werk eines Autors als einen einzigen Roman aufzufassen, trifft auf Bolaños Schaffen in ganz besonderem Maße zu. So finden sich auch in diesem seinem angeblich letzten unvollendeten Roman, der wie immer ausgezeichnet übersetzt von Christian Hansen gerade bei Hanser erschienen ist, viele Figuren und Teilerzählungen wieder, die bereits aus anderen Romanen und Erzählbänden bekannt sind. Er liest sich streckenweise wie ein Prequel zu “2666”, einige Passagen erinnern an “Die wilden Detektive”, “Telefongespräche” oder die junge Drogensüchtige Elisa am Ende z. B. an die Bianca aus dem “Lumpenroman”. Wie dieser Roman auf einen Erstleser wirken mag, kann ich nicht beurteilen, auf mich wirkte er vor allem im dritten und vierten Teil wie ein Setzkasten aus Puzzleteilen, die er bereits in anderen Werken verwendet hat oder in neuen noch verwenden wollte.
Erzählt wird von zwei älteren Homosexuellen, dem chilenischen Professor der Philosophie Oscar Amalfitano und seinem Geliebten, dem spanischen Lektor und Schriftsteller Joan Padilla, die zu Beginn in Barcelona leben. Durch Gerüchte seine Homosexualität betreffend verlässt Amalfitano mit seiner siebzehnjährigen Tochter Rosa Spanien und nimmt einen Lehrauftrag am philosophischen Institut an der Universität Santa Teresa in Mexiko an. Padilla schreibt an seinem Roman “Der Gott der Homosexuellen”, der sich mit dem Schicksal und den Lebensumständen Aidskranker beschäftigt. Der erste Teil handelt von Amalfitanos Abschied ungefähr zur Zeit der Wende in Deutschland. Es ist immer wieder auffällig, dass Bolaño auch in den vielfältig erwähnten literarischen und philosophischen Werken auf deutsche Titel verweist und auf die Zeit des 2. Weltkriegs. Im zweiten Teil entspannt sich ein interkontinentaler Briefwechsel zwischen Amalfitano und Perdilla, die sich über Literatur und ihr nun getrenntes Leben austauschen. Perdilla ist selbst an Aids erkrankt.
Man könnte sogar Relationen zu den fünf Teilen von “2666” herstellen. Danach entsprächen die ersten beiden Teile dem zweiten “Der Teil von Amalfitano” in “2666”, der dritte Teil “Rosa Amalfitano” dem gleichfalls dritten in “2666”, “Der Teil von Fate”. Der vierte Teil “J.M.G. Arcimboldi”, noch kein Benno von Archimboldi wie in “2666”, entspräche dem letzten in “2666” und der fünfte Teil “Sonoras Mörder” handelt wie in “2666” vom Beginn der Morde und den Vergewaltigungen junger mexikanischer Fabrikarbeiterinnen. Die erwähnten fiktiven Romane Arcimboldis haben sehr ähnliche Titel (aus “Die Vollkommenheit auf Schienen” wird in “2666” “Die Vollkommenheit der Schiene”) und auch der Zeitpunkt der Geburt Arcimboldis 1925 in Carcassonne lassen den Schluss zu, dass der ganze Teil eine Materialsammlung zu dieser Figur darstellt, ähnlich wie die Erzählung “Prefiguration de Lalo Cura” eine Art Skizze des späteren mexikanischen Polizisten Lalo Cura (der Wahnsinn=la locura) in “2666” entwirft. Hier wirken die Inhaltsangaben dieser Werke Arcimboldis wie geheimnisvoll verschlüsselte Exposés von Bolaño selbst und sie könnten auch Entwürfe zu seinen eigenen zukünftigen Romanen gewesen sein. Es besteht kein Zweifel, dass er bei aller ironischen Brechung durchaus in der Lage gewesen wäre, sie alle auch nachträglich selbst noch zu schreiben. Dennoch muss gesagt sein, dass manche Passagen, die den später leidenschaftlich von den vier Kritikern gesuchten Autor umschreiben einfach zu manuskriptartig wirken und ziemlich trocken zu lesen sind. Nicht umsonst hat sich Bolaño in “2666” dazu entschieden, meist lediglich die Werktitel in ihrer Rätselhaftigkeit für sich stehen zu lassen. Der fünfte Teil enthält viele skizzenhafte Lebensbilder vom mexikanischen Poizeipräsidenten Pedro Negrete bis zum General Sepúlveda und dem aufsteigenden Polizisten Francisco Pancho Monje. Wobei mich das Pancho an den Diener Sancho Pansa bei Cervantes erinnert, die ganze mexikanische Szenerie wiederum an “2666”. Im kurzen dritten Teil “Rosa Amalfitano” wird Amalfitanos Tochter von eben diesen Polizeikräften überwacht. Sie und ihr Vater sind ständigen Verdächtigungen seitens einer korrupten Obrigkeit ausgesetzt. Amalfitano ist in steter Sorge um seine Tochter, die jedoch beginnt selbstbewusst ihr eigenes Leben zu leben. Von vielen Nebenfiguren wird wie im Rausch erzählt, bis am Ende doch wieder nur der Briefwechsel Amalfitano/Padilla bleibt, der für mich der Versuch Bolaños ist, sich selbst in zwei literarische alter Egos zu spalten, die eine Brücke von Lateinamerika nach Europa schlagen, was seinem eigenen Lebensweg entsprach.
Meine fünf Lieblingsseiten, falls es überhaupt so etwas geben sollte, sind gleich im fünften Kapitel des ersten Teils die Seiten 33 bis 37, auf denen Amalfitano sein gesamtes Leben in einer langen Aufzählung aus verschachtelten Satzteilen, die alle mit “der ich” beginnen, als eine Art destilliertes Komprimat erzählt. Ein mitreißender Wortschwall, der einem Sturzbach gleicht. Reisen, Philosophiestudien, Übersetzungen, magische Momente mit seiner Tochter, politische, meist linke Überzeugungen, seine Homosexualität nach dem Tod seiner Frau Edith Lieberman, über die es einige der schönsten Sätze des Romans gibt:
“…der ich Edith Liebermann liebte und heiratete, die schönste und zärtlichste Frau der südlichen Hemisphäre, der ich nicht wusste, dass Edith Liebermann alles verdiente, die Sonne und den Mond und tausend Küsse und noch tausendmal tausend mehr, …der ich mit meiner Tochter auf den Schultern an den schönsten Stränden der Welt badete, während Edith Lieberman, die schöner war als all diese Strände, uns vom Ufer aus zuschaute, barfuß im Sand, so als wüsste sie Dinge, die ich nie erfahren und die sie mir nie verraten würde, der ich Witwer wurde in einer Nacht aus Plastik und geborstenen Scheiben, nachts um Viertel vor vier, während ich am Bett von Edith Lieberman saß, Chilenin, Jüdin, Französischlehrerin, und im Nachbarbett eine Brasilianerin von einem Krokodil, einem mechanischen Krokodil, träumte, das ein Mädchen über Berge aus Asche verfolgte…”
Diese Sätze aus dem fünfseitigen Texteil wiederholen sich knapp 200 Seiten später exakt noch einmal, diesmal in auktorialer Erzählweise, in der sie aber nicht die gleiche Wirkung erzielen. Was einmal mehr beweist, dass eine stringente Form zu ganz großer Literatur dazugehört.
Die bisherige Kritik scheint geteilt. Einerseits wird die Konsistenz des Romans als eigenständiges Werk bezweifelt, andererseits ist es für eingefleischte Bolaño-Leser immer noch überaus faszinierender, einen unfertigen Bolaño als manch anderen in sich schlüssigen und abgeschlossenen Roman zu lesen. So berechtigt vielleicht mancher Einwand sein mag, die Nachlassverwalter würden immer wieder neue Fragmente posthum auf den Markt werfen, bildet er doch auch ab, dass selbst Vorstudien, Vorgeschichten und immer wieder neu geschriebene Variationen von einem erzählerischen Reichtum sind, der diesen Roman nicht unbedingt zu einer geeigneten Anfängerlektüre macht, aber den Leser mit schwindelerregender Erzählphantasie und –lust begeistern kann. Die Haupthandlungsfäden mögen etwas dünn sein, um so größer die Figurenvielfalt und die immer wieder neuen Binnenerzählungen. Surreal anmutende, wie in Trance mit Halluzinationen geschriebene Passagen gehen in realistische über und wieder umgekehrt.
Die Homosexualität der beiden Protagonisten wird existentiell, aber auch ironisch dargestellt und bisweilen auch mit deutlicher Wortwahl, worauf die deftige Kategorisierung von Dichtern als Schwule, Schwuchteln, Zwergtunten etc. am Anfang bereits vorausweist. Trotzdem schafft es Bolaño sogar, den homosexuellen Liebesakt nachvollziehbar und in keiner Weise diskriminierend zu beschreiben (S. 250). Unterschiedliche menschliche Sexualpraktiken werden als triebhaft, aber als nicht zu beschönigende Antriebskräfte und als normaler Lebensbestandteil ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen geschildert. Die jeweilige sexuelle Präferenz ist nicht so wichtig wie die sie begleitenden Gefühle.
Man kann den Roman als eine Materialsammlung vor allem zu “2666” lesen. Am Ende hat der Leser wirklich die Not oder das Vergnügen, der unerschöpflichen Phantasie Bolaños bekannte Korrespondenzen zuzuweisen, die über das ganze Werk verstreut sind. So schwer entzifferbar und in der Schwebe manche stellen auch sein mögen, selbst einen Blick in seinen “Zettelkasten” werfen zu dürfen ist eine mehr als aufregende Lektüre. Eine komplette und hervorragend edierte Werkausgabe Bolaños gibt es vielleicht erst im nächsten Jahrhundert. Neben der peu à peu posthumen Veröffentlichung neuer Romankonstrukte, würde ich mir auch die erste deutsche Übersetzung seiner Gedichte wünschen. Zuletzt etwas profan Einfaches: Roberto Bolaño schreibt immer gut oder man könnte auch sagen, es ist ihm nie gelungen schlecht zu schreiben. Lesen Sie Bolaño!
Nachtrag:
Amalfitano schreibt Padilla eine Postkarte (S. 260) mit diesem Doppelporträt Frida Kahlos aus dem Jahre 1939, “Die beiden Fridas”. Auf farbwahn.blogspot.de heißt es dazu unter anderem: ”Die unterschiedliche Kleidung könnte auf ihren Schwebezustand zwischen der europäischen und mexikanischen Tradition hinweisen”. Durch die Konstruktion seiner beiden Hauptfiguren schafft auch Bolaño eine Verbindung des lateinamerikanischen Kontinents mit dem europäischen. Er hebt sein Werk auf eine globale, internationale Ebene.
Rezension:
Andreas Breitenstein: “Der Pyromantiker der Traurigkeit” NZZ März 2013