Lothar Becker: «Hitler in der U-Bahn» (Satire)
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Hitler in der U-Bahn
Lothar Becker
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Elmar hatte sie schon die ganze Zeit über beobachtet, und jetzt kamen sie auf ihn zu: Es waren zwei, und sie waren kahlgeschoren und trugen Lederjacken und schwere Stiefel. Das Blech des U-Bahn-Waggons dröhnte unter ihren Schritten. Elmar lief es eiskalt über den Rücken. Er war Ende dreissig, ziemlich klein, litt unter Verstopfung und kam nicht bei Frauen an. Seine Physiognomie hinterliess einen mehr oder weniger dümmlichen Eindruck, und weil er das wusste, machte er sich keine Illusionen, dass er etwa aussehen könnte wie jemand, den diese Typen nicht zusammenschlagen würden. Elmar war auf alles gefasst.
Er sah, wie sich die beiden vor ihm aufbauten, und wie die Leute auf den benachbarten Plätzen intensiv aus dem Abteilfenster zu blicken begannen. Dann schloss er die Augen.
Als er sie kurz darauf wieder öffnete, befanden sich die beiden Kahlköpfe vor ihm in einem irritierenden Zustand. Mit halbgeöffneten Mündern und Glatzen, die in der Neonbeleuchtung rosig glänzten, starrten sie ihn völlig fassungslos an. Einer von ihnen kratzte sich verlegen am Hintern. Dann brüllten sie fast gleichzeitig los: «Kalle! He, Kalle! Mach mal hin, eh!» Kalle stürzte mit mehreren Begleitern durch die Abteiltür. Sie alle waren Skins. Und Kalle gab mit den Zentnern, die er auf die Waage brachte, einen erstklassigen Boss ab.
«Wat is los? N’ Kaffer klatschen oder wat?»
«Blödsinn. Da! Guck dir den mal an, eh!»
Kalle schob sein Gesicht bis auf ein paar Zentimeter an das von Elmar ran. «lck faul ab, eh!Det is Adolf!»
Elmar rutschte in sich zusammen. Was für ne Scheisse, dachte er, was ist das nur für eine Scheisse! Er hatte nicht den geringsten Schimmer, was die von ihm wollten.
Kalle holte ein Photo aus der Innentasche seiner Lederjacke. «Hier, kieck mal!»
Elmar begriff die Welt nicht mehr. Der Mann auf dem Bild war er. Nur dass der da ein schmales Bärtchen auf der Oberlippe trug. Aber sonst…
Kalle hatte jetzt Haltung angenommen und strahlte: «Det is der Führer!»
Elmar verstand noch immer nichts. Einer der anderen Skins berührte ihn beinahe sanft an der Schulter. «Keene Angst, Hitler. Wir tun dir nichts.» Kalle steckte das Photo wieder ein. «Keener tut dir wat, Hitler. Wir mögen dir.» Elmar versuchte zu lächeln. Es misslang ihm.
Sämtliche Fahrgäste hatten das Abteil inzwischen verlassen. Jetzt gab es hier nur noch ihn und ein gutes Dutzend übergeschnappter Skins, die ihn bestaunten. Was immer sich hier abspielte, soviel stand fest: lebend würde er hier nicht mehr rauskommen. Wenn er auch nur daran dachte, drehte sich ihm der Magen um. Die Skins schienen davon nichts zu bemerken.
Kalle holte eine Packung Zigaretten hervor. «He, Hitler, sach mal, rauchst du eigentlich?» Elmar schüttelte den Kopf und Kalle drehte sich zu den anderen um. «Eh, ihr Scheisser, wie war det – hat Hitler eigentlich geraucht?»
«Nee, det stimmt schon so. Hitler hat nich geraucht.»
Kalle strahlte schon wieder.
«Sach ick doch. Det is wie echt, eh!» Er steckte sich selber eine an und blickte triumphierend in die Runde. Es war ein grosser Tag für jeden von ihnen.
Nur ein paar waren nicht ganz so beeindruckt. «Wenn det Hitler is, Kalle, wieso trägt er denn Turnschuhe?»
Kalle zog die Stirn in Falten und begann, Elmars Füsse anzustarren. «Hör mal, Hitler, eenes musst du uns versprechen: zieh bloss keene Turnschuhe mehr an, wa? Und denn lasse dir so nen kleenen Bart stehen,eh!»
Elmar nickte. Der Alptraum nahm kein Ende. Wieso bloss machten die ihn nicht fertig? Die U-Bahn raste durch die Stadt. Sie war zur Falle geworden für ihn. Zur Mausefalle für Hitler.
Die Skins konnten offensichtlich nicht genug von ihm kriegen. An irgendeiner Station bekamen sie schliesslich Durst und stiegen aus. Kalle war schon an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte: «Wir kommen jetzt jeden Tag, wa! Und wenn du morgen keene Stiefel trägst, verjesse ick mir, Hitler!»
Elmar arbeitete am anderen Ende der Stadt. Er hatte keine Wahl, was das U-Bahn-Fahren anbelangte. Voller Panik liess er sich ein rechteckigesBärtchen auf der Oberlippe stehen und begann, in Militärstiefeln herumzulaufen.
Die Skins patrouillierten jeden Tag in der U-Bahn, und Elmar kam noch immer verdammt gut bei ihnen an. Eines Tages passten sie ihn schon am Fabriktor ab. Kalle nahm ihn am Arm.
«He, Hitler! Komm her, Hitler! Wir haben wat für dich!»
Sie liefen eine ganze Weile. Dann waren sie da. E s war eines dieser Abbruchhäuser,und das ganze Haus war voller Skins. Es waren beängstigend viele. Kalle schob Elmar an ihnen vorbei in eines der Zimmer im Erdgeschoss. Bis auf ein Mädchen war niemand darin. «Pass auf», sagte Kalle, «det is Eva. Eva Braun.» Dann ging er raus und schloss die Tür hinter
sich.
Elmar fand, dass dieses Mädchen einige Nummern zu gross war für ihn, und er verstand nicht, weswegen sie ihn auf diese eindeutige Art und Weise anlächelte. Eva begann, sich an ihrem Strumpfhalter zu schaffen zu machen.
«Na, mein Kleener, wie hätten wirs denn jern?»
«So wie der Führer nehme ich an…»
«Det hätte mir och jewundert!» Eva fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. «Na, denn zieh dir mal aus, wa?»
Elmar stieg aus seinen Stiefeln, aus dem Rest seiner Kleidung. Dann stellte er sich auf das Bett und riss den rechten Arm in die Höhe. Eva hatte einige Mühe, ihre Sache gut zu machen.
Als Elmar das Zimmer wieder verliess, waren die Skins in Bewegung gekommen. Einer von ihnen stiess Elmar raus auf die Strasse: «Freu dir, Hitler, heute jibts Krieg!»
Einige Blocks weiter bewegten sich zwischen fünfzig und hundert aufgebrachte Linke auf sie zu. Keine Frage, weswegen sie hier waren. Die Skins lauerten hinter der Tür und soffen sich Mut an. Dann kamen sie raus. Elmar befand sich plötzlich inmitten einer Unmenge rotierender Fäuste und Stiefel. Er stellte fest, dass er vor Angst schlotterte. Ganz egal, in was er auch reingezogen wurde, er zog immer den Kürzeren. Im Grunde war es dasselbe wie damals in der U-Bahn, nur dass er diesmal eine reelle Chance besass, sich zu verdrücken.
Elmar versuchte, unbemerkt in die nächstbeste Seitenstrasse abzudriften.
Plötzlich stand Kalle vor ihm: «He, Hitler!Wo willst du hin, du feige Sau?» Er war mörderisch in Fahrt.
Elmar begriff, dass es nicht nötig war, zu antworten. Dann spürte er den ersten Schlag. Elmar schrie los. Und Kalle schlug, schlug, schlug.
Elmar wurde übel, als er das Blut im Mundwinkel schmeckte. Aber dennoch: zum ersten Mal seit Wochen begann er die Welt wieder zu verstehen. ■
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Geb. 1959 in Limbach-Oberfrohna/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Veröffentlichungen von Musical- und Theater-Stücken, lebt als Jugend-Sozialpädagoge in Lembach/D
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Kurzprosa von SAID
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ida kommt nicht mehr
S A I D
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«den ort bestimmst du, ich komme dorthin – wenn auch mit ein wenig verspätung.»
so lautete idas mail vor dem ersten rendezvous.
er wartete gerne auf sie.
von dem trottoir gegenüber kam eine frau in einem minirock auf ihn zu.
«sie hat einen entschlossenen ausdruck», dachte er.
sie setzte sich neben ihn und zeigte viel von ihren beinen.
«ida kommt nicht, ich heiße arlette.»
er bekam kein wort heraus.
«sie hat mich geschickt für dich.»
«sie hat was?»
«ida meint, ich würde gut zu dir passen.»
mit 175 cm war ida größer als er; arlette war klein, um die hüften ein wenig plump.
inmitten seiner überlegungen meldete sich die neue:
«wir können in einen park gehen und uns auf eine bank setzen.»
dort auf der bank legte sie die beine übereinander, wippte mit dem fuß und wartete.
er griff in ihre bluse, sie verwehrte ihm nichts und folgte seiner hand.
hernach suchte er nach einer phrase und sprach von ida.
«die liaison mit ihr hat mit scheuen blicken begonnen und ein paar flüchtigen worten.»
«höre ich schon einen vorwurf?» fragte sie.
«selbst ihre stimmen sind so verschieden: ida hoch und schrill, arlett warm und dunkel», dachte er und suchte nach einem ausgang für die situation.
nach der dusche lief arlette nackt in seiner wohnung herum.
«ein beinah gedrungenes mädchen», sinnierte er.
sie kämmte und schminkte sich mit wenigen bewegungen, schlüpfte in den minirock und ging mit ihm hinaus.
«du ziehst die blicke der männer an.»
«ich genieße es, daß sich alle an mir sättigen», schmunzelte sie, «mit ihren blicken.»
«ida hätte so einen satz nie ausgesprochen.»
«menschen, die nicht lügen können, taugen nicht für eine liebesbeziehung», flötete sie und hängte sich bei ihm ein.
«was mache ich mit diesem tierchen?» überlegte er.
nachts schlief jeder in seinem bett.
die tage teilten sie sich, die nachmittage nackt.
sie legten sich hin, ohne sich auszuziehen, sie drückten die handflächen gegeneinander. er sprach von ida. arlette kannte das schon, ließ das eine weile geschehen und schlenkerte sich dann die schuhe von den füßen. sie liebte es, genommen zu werden, unter dem tageslicht.
er betrachtete die gegend um ihre augen und verriet sich:
«wir müssen klare spielregeln festlegen.»
«die eindeutigkeit ist nur eine form von sauberkeit», und sie wühlte in seinem haar.
«spielregel bedeuten pufferzonen, und die sind nötig.»
«du meinst leerräume», schnaubte sie.
er hob die schulter.
«vor allem müssen wir dein gedächtnis trainieren», arlette ließ sich zeit, bevor sie hinzufügte: «damit du ida vergißt.»
sie erwartete keine antwort, aber es kam eine.
«warum sollte ich sie vergessen?»
«um näher zu kommen.»
«weißt du, wie lange ich mit ida war?»
«ich weiß es», sie küßte sein ohr: «drei jahre, acht monate und sechs tage.»
«das weißt du?»
«ich weiß noch mehr», und ihre stimme wurde dünn.
«zum beispiel?»
arlette wollte ihn nicht verlieren und begann zu erzählen, bis kein geheimnis mehr in ihrer erinnerung geblieben war.
er sagte nichts und starrte sie an.
«was hältst du von masken?»
«nichts», antwortete er.
«aber es gibt nacktheiten, die danach schreien», sie wurde rot im gesicht, als hätte sie etwas schamloses gesagt.
«es ist schlimm, wenn einem die gabe des schweigens fehlt», war seine erwiderung.
«meine geheimnisse fallen aus mir heraus, wenn sie gereift sind», sagte sie und schluckte.
er schwieg.
«wäre ich in der dunkelheit geblieben», dachte sie und kehrte zur demut zurück:
«in mir gibt es nichts, was endgültig wäre.»
«ob die ausstrahlungen deiner unruhe für meine wirklichkeit brauchbar sind?»
sie begann sich anzuziehen.
«der mensch kann nicht bestehen, wenn er geöffnet vor den blicken eines anderen daliegt», und er machte eine vage geste. ■
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S A I D (Pseudonym)
Geb. 1947 in Teheran geboren, 1965 Übersiedlung als Student in die BRD, 1979 Rückkehr in den Iran, jedoch bald darauf und seither aus politischen Gründen wieder im deutschen Exil lebend; zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Träger verschiedener internationaler Literatur- und Kultur-Preise; 2000 bis 2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland; lebt in München
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Zwei Kurzprosa-Texte von Martin Kirchhoff
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Strandleben
Martin Kirchhoff
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Langsam lasse ich mich auf dem braunen Steinblock nieder und warte ab. Endlich rattert der grüne Zug über die Brücke, dann scheint er sich im Grün des Dammes aufzulösen, bevor er verschwindet. Eine schwarze Wolke, die der Wind über das Land meerwärts treibt, verschluckt die Sonne. Noch schaue ich dem Zug nach, mein Blick gleitet suchend über die Grasfläche, die der Wind mit seinen salzigen Fingern durchkämmt. Tief Luft einziehend springe ich auf, strecke meinen Körper, trete dann vor an den Rand. Angekommen, zögere ich. Sand rieselt abwärts zum Strand, der sich dem Meer zuwellt, bis die Wasserwellen ihn verschlucken. Endlich springe ich lachend hinab.
Über dem Meer gleitende Möwen ziehen meine Aufmerksamkeit auf einen grauen Stein im Wasser, auf dem ein Kormoran beide Flügel spreizt. Jesus auf einer Insel vor einer Insel, kommt mir in den Sinn. Up, up, ruft ein Mann seinem Schäferhund nach, der Sand aufwirbelnd davonrennt, vorbei an zwei Frauen, die in ihrem Gespräch vertieft unbeirrt weitergehen. Regen prasselt nieder, die Luft riecht schwer, leichter Dampf steigt vom Sand empor. Noch auf dem Stein, mit angelegten Schwingen, erweckt der wieder zum Vogel gewordene Kormoran keine Sinnbilder in mir. So bleibe ich hängen auf einem Punkt eines weiten Strandes. Ich genieße die Regentropfen. Grenzstreifen zwischen Land und Atlantik. Zwei Welten einer Welt. Eine junge Frau nähert sich. Sie bückt sich, nimmt eine Muschel auf, gleich die nächste. Die schwarzen Wolken ziehen weiter zum Meer hinaus. Im hohen Bogen wirft die Frau eine der Muscheln von sich, den Wellen zu. Am Horizont ist ein Schiff sichtbar. Es scheint sich nicht zu bewegen, steht kurz im Kontrast zur Frau, die mit schräg geneigtem Haupt meerwärts strebt. Plötzlich bückt sie sich erneut und nimmt die nächste Muschel auf, während die Wellen ihre Füße umspülen. Mit hohem Satz hüpft sie rückwärts in die abziehenden Wellen. Rasch streicht sie sich mit der linken Hand über ihre Stirn. Das Schiff klebt noch am Horizont, weit im Norden erheben sich die Berge. Zwischen ihnen und mir ist ein roter Leuchtturm. Der rennende Schäferhund schiebt sich in mein Gesichtsfeld, vor dem Leuchtturm, eine Frau wirft Muscheln hoch, die sie auffängt, schnell und schneller, zwei Frauen reden aufeinander ein, die Berge schieben sich ins Meer.
Hier werde ich bleiben. Auf dieser Stelle werde ich das Meer erwarten. Der Kormoran ist verschwunden; irgendwo über dem Meer unterwegs, das sich nähert, mir zuwellt, das kommt. Möwen kreischen im Gleitflug, die Berge schwimmen zum Schiff, das sie erwartet. Kommkomm, verstehe ich die Möwen, strecke meine Arme aus und bleibe stehen. Kommkomm, denke ich, wartend, erwartend, kommkomm, singt die Muscheljongleurin in der Ferne, neben dem Leuchtturm, der mit seinen scharf gebündelten Lichtstrahlen dem Wasser des Boyne den Weg zum Meer weist. Hinter mir verschwimmt die Sonne im Westen im Atlantik. Dazwischen das Inselland. Stärker rieche ich den Tang, das Parfüm des Meeres, näher züngeln die Wellen heran, nehmen das Grenzland auf. Ob ich über das Wasser gehen kann, weiß ich nicht. Bald werden die Wellen bei mir und ich nicht mehr allein sein.
Das Sonnenlicht bricht durch die dunklen, aufgebauschten Wolken, der Wind spielt in meinem Haar. Kein Kormoran sitzt auf dem Stein und ich gehe ein wenig enttäuscht weiter. Zwei Frauen wandeln schweigend dem Leuchtturm zu. Meine Augen folgen ihnen, bis sie unerwartet an einem Stein im Wasser hängen bleiben, der gestern nicht dort war, auf dem mit gespreizten Flügeln ein Kormoran steht. Die Berge sind, wo sie waren und hingehören. Das Schiff machte zwei Frachtern Platz. Dann entdecke ich auf dem Stein hinter dem Kormoran eine Muschel. Vielleicht kommt sie wieder vorbei, denke ich, kommkomm, Muschelfrau und betrachte den Kormoran, der sich auf den Stein setzte, als warte er. Kommkomm, flüstern die Wellen, kommkomm, denke ich und weiß, ich werde warten.
Nachts spüre ich die Wellen, die mich umspielen. Aus dem Nichts der Dunkelheit erscheint leise singend die Muschelfrau. Sie streckt sich, lässt sich dann auf mir nieder. Kommkomm, scheint sie zu singen, ich bin da, ein gelbbrauner, mit ein paar weißen Adern durchzogener Stein. ■
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Eigentlich könnten wir glücklich sein…
Martin Kirchhoff
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Wieder in der S-Bahn unterwegs zur Arbeit. Tägliche Tretmühle. Zweygarth betrachtet Sonja, die mal wieder ihm gegenüber sitzt. Ihr Kiefer bewegt sich monoton, wie immer nach einem Streit. Diesmal war es die Marmelade, die ihre Gemüter erhitzte. Sonja starrt durchs Fenster auf die fliehende Landschaft.
Die Bahn hält, Menschen drängen sich herein, müde Welten, griesgrämige Gesichter. Zweygarths Augen springen hin und her, auf vager Suche nach einer anderen, schöneren Welt. «Eigentlich», denkt er, «könnten wir glücklich sein», und schüttelt den Kopf. Plötzlich wendet sich Sonjas Gesicht ihm zu, aus dem kurz und bündig ihre Zunge schnellt, bevor sie sich wieder abwendet. Verärgert zwar, bleibt Zweygarth ruhig und lässt seine Zunge im Mund.
«Waren wir damals glücklich», fragt er sich, «vor fünf Jahren?» Langsam zieht er die linke Schulter hoch und schneidet eine dumme Fratze.
«So ein Blödsinn», skandiert irgendwo im Waggon einer. «Hartz wie viel auch immer, steigende Preise», labert die Stimme weiter. «Massenverblödung von oben», quiekt eine Frau auf, «jawohl!»
Zweygarth lächelt hämisch vor sich hin, Sonjas Kopf ruckt, ihre Augenbrauen springen hoch, zugleich schießt erneut ihre Zunge Zweygarth zu, dessen Lächeln auf den Lippen erstarrt.
«Immerhin fünf Jahre durchgehalten», resümieren Zweygarths Gedanken. «Darüber könnten wir glücklich sein.»
«Ha», manifestiert eine Frauenstimme, «wir haben Hitler geschafft, das Wirtschaftswunder – die Wiedervereinigung schaffen wir auch noch!» Gemurmel schwillt an. Zweygarths Gedanken springen über in die Abteilung des Amtes, in der er seit vielen Jahren werkelt. «Blöde Beamte, blöder Trott», denkt er, «aber wäre ich nicht dort, wäre ich wohl gehartzt. Also bin ich übers Unglück glücklich. Könnte schlimmer sein. Lieber aus einem Blechnapf essen als vom Boden fressen!»
«Wir können alles außer glücklich sein», trompetet eine jugendliche Stimme hinter ihm. Gelächter kommt auf. Zweygarth beugt sich Sonja mit aufgesetztem Lächelgesicht zu, räuspert sich, raunt ihr dann dunkel zu: «Eigentlich könnten wir glücklich sein…» ■
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Geb. 1954 in Leonberg/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern, Zeitschriften und Anthologien, verschiedene Literaturpreise, lebt als Zeitungskorrektor in Leonberg
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Weitere Texte von Martin Kirchhoff im Glarean Magazin
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Parabel von Bernd Giehl
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Die Zeitungsente
Bernd Giehl
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Dr. Conrad von Mayr saß gerade mit seiner Geliebten, der Baronin von Scharfenstein-Ohlenhorst, beim Frühstück, als es an der Tür klingelte und eine halbe Minute später ein Zeitungsjunge, halb ohnmächtig vor Aufregung durch die Tür zum Esszimmer witschte. «Der Herr Doktor wünscht beim Frühstück…» konnte der Diener, der hinter ihm hergelaufen und ihn gerade noch am Ärmel seines Jacketts zu fassen bekommen hatte, noch hervorbringen, aber der Junge in der kurzen Hose, die Ballonmütze immer noch auf dem Kopf, war schon ins Zimmer gestürzt, wo der Doktor und die Baronin beim Frühstück saßen. «Herr Doktor, verzeihens bitte, der Herr Chefredakteur…» – «…ich bin der Chefredakteur» fiel ihm Mayr ins Wort – «…der Herr Generaldirektor…» – «den gibt es bei uns nicht…» Der arme Kerl war jetzt so sehr den Tränen nahe, dass Mayr nicht anders konnte als aufzustehen und dem Diener ein Zeichen zu geben, er solle ihn loslassen, was der auch tat, woraufhin er selbst den Bengel am Arm nahm und auf einen Stuhl setzte, den er vom Tisch weggezogen hatte. «Magst a Semmel?» fragte er den verdutzen Jungen, dem schon verdächtige Spuren im Gesicht schimmerten. Mit einer Handbewegung wies er den Diener an, noch ein Gedeck aufzulegen. Der Junge – er mochte vielleicht vierzehn Jahre alt sein – holte sein Taschentuch heraus und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Dann nahm er einen neuen Anlauf. «Der Herr Dr. Moellendorff schickt mich, weil der Erzherzog ist tot, steht in der Zeitung und keiner hat’s gewusst.» Im nächsten Moment zog er die reichlich zerknitterte «Illustrierte Kronen Zeitung» aus der Tasche seiner Jacke und reichte sie dem verdatterten Mayr. Ein Blick auf die Titelseite genügte. In großen Lettern stand dort: «Thronfolger in Sarajewo durch Bombenattentat ermordet.» Darunter ein Foto der Limousine, in der Erzherzog Franz-Ferdinand und seine Gemahlin Sophie durch eine Hauptstraße Sarajewos fuhren. Sowohl der Wagen als auch seine vier Insassen sahen noch unversehrt aus. «Warum weiß ich nichts davon?» donnerte der Chefredakteur. Alle drei, die Baronin, der Zeitungsjunge und der Diener fuhren zusammen; so heftig donnerte Mayrs Faust auf den Tisch. Dem Jungen standen schon wieder die Tränen im Gesicht. «Am Nachmittag des 27. Juni», las er mit lauter Stimme vor, «wurde der österreichische Thronfolger und seine Gattin Sophie von Hohenberg durch den zwanzigjährigen Bosnier Gabriel Prinz – kein Bosnier heißt Gabriel Prinz – ermordet. Der Thronfolger und seine Gemahlin fuhren im offenen Wagen, als Prinz, der am Straßenrand stand, unter seinen Mantel griff und eine selbstgebaute Bombe in den Fonds des Wagens schleuderte, in dem Seine Kaiserliche Hoheit und Prinzessin Sophie …» Im nächsten Augenblick versagte Mayr die Stimme. Die Baronin saß wie versteinert auf ihrem Stuhl, der Diener bückte sich nach den Scherben des Gedecks, das er fallen gelassen hatte, aber auch er erstarrte in der Bewegung, nur der Zeitungsjunge schluchzte hemmungslos. «Sie sind tot.» «Eine Droschke», brüllte Mayr den Diener an, der sich langsam wieder aufrichtete; «eine Droschke zur Redaktion. Aber subito. – Verzeihen Sie, meine Liebe,», wandte er sich dann an die Baronin. «Aber ich bitte dich», erwiderte die und fügte hinzu: «Seit wann siezen wir uns?» Im nächsten Moment lief sie feuerrot an. «Aber natürlich. Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht. Tun Sie so, als wäre ich gar nicht da.»
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Hochrot im Gesicht, als ob er kurz vor einem Schlaganfall stünde, stürzte Chefredakteur Conrad von Mayr durch die Redaktionsräume der «Illustrierten Kronen Zeitung». Die Redakteure und Sekretärinnen bückten sich tief über ihre Schreibmaschinen und Formulare. «Wo ist der Schuft? Wer hat das verbrochen? Wo ist Moellendorff?» Im nächsten Augenblick wurde eine Tür aufgerissen und die untersetzte Gestalt des stellvertretenden Chefredakteurs Konstantin Moellendorff wurde sichtbar. «Hier bin ich, Herr Geheimrat». «Warum haben Sie mich nicht…» – und dann brach Mayr ab, als sei ihm jetzt erst bewusst geworden, dass die ganze Redaktion seinen Ausbruch mitbekam. «Kommen Sie mit in mein Büro».
«Warum weiß ich nichts davon?» fuhr er seinen Stellvertreter an, als sie im Zimmer des Chefredakteurs standen und Moellendorff die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er hielt seinem Stellvertreter die Zeitung, die der Bote ihm gebracht hatte, so dicht unter die Nase, dass dieser zurückwich, als ob der andere ihm die Zeitung ins Gesicht geschlagen hätte. «Herr Geheimrat hatten ausdrückliche Anweisung gegeben, an diesem Abend nicht gestört zu werden.» «… außer im Fall, dass der Krieg ausbricht», hatte der Herr Geheimrat noch hinzugefügt, und sie hatten beide gelacht. Es musste schließlich niemand von seinem Techtelmechtel mit Baronin Carla erfahren, deren Mann für ein paar Tage zum Manöver in Baden weilte. Der Zeitungsjunge, er musste unbedingt noch einmal mit dem Zeitungsjungen sprechen. Ein paar Kronen würden die Sache wahrscheinlich regeln. Falls er die Dame überhaupt kannte. So eine Duellforderung konnte unangenehm werden. Später.
«In so einem Fall möchte ich unverzüglich informiert werden.» Seine Stimme klang jetzt fast schon wieder amtlich. «Ich hoffe zumindest, dass Sie Ihres Amtes gewaltet haben.»
«Was meinen Herr Geheimrat mit ‚meines Amtes gewaltet‘?» Mayr registrierte, dass Moellendorffs Stimme gepresst klang. «Ich meine damit, dass Sie sich unverzüglich mit unserem Korrespondenten in Sarajevo und dem Hof hier in Wien in Verbindung gesetzt haben. Schließlich kann so eine Meldung auch eine plumpe Fälschung sein. Von interessierten Kreisen in die Welt gesetzt.»
Moellendorffs Schweigen sagte alles.
«Dann werden Sie das jetzt unverzüglich tun. Über die Konsequenzen für Ihr unverzeihliches Verhalten reden wir später.» Hauptsache, das alles hatte keine Konsequenzen für ihn.
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Die Telegrafen in der Redaktion ratterten auf Hochtouren. Eine halbe Stunde später war die Verwirrung vollkommen. Der Korrespondent in Sarajevo hatte bestätigt, dass er das Attentat zwar nicht mit eigenen Augen gesehen hatte; er hatte etwa 500 Meter von dem Ort, an dem es passiert war, gestanden, dass er aber die Aufregung und die Panik der Menge bemerkt und versucht hatte, sich durchzudrängen. Das Durcheinander sei unbeschreiblich gewesen. Zunächst habe es für ihn und den Fotografen kein Durchkommen gegeben, und als sie schließlich am Ort des Geschehens angekommen seien, hätten sie das schwer beschädigte Automobil, in dem der Erzherzog und seine Gemahlin gesessen hatten, mit eigenen Augen gesehen. Die beiden Toten seien allerdings zu diesem Zeitpunkt schon abtransportiert worden.
Anders dagegen der kaiserliche Hof. Kronprinz Franz-Ferdinand und seine Gemahlin, die Gräfin von Hohenburg befänden sich tatsächlich in Sarajevo, aber die Truppenparade der Armee seiner Kaiserlichen Majestät, die Seine kaiserliche Hoheit abnehmen werde, finde erst am heutigen Tag, dem 28. Juni statt und von einem Attentat sei dem Hof nichts bekannt. Man werde sich jedoch unverzüglich mit der Dienststelle der k.u..k. Polizei in Sarajevo in Verbindung setzen und empfehle der Redaktion der «Illustrierten Kronenzeitung» das ebenfalls zu tun. Mit vorzüglicher Hochachtung. Gez. v. Meyrink, Erster Sekretär.
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Die komfortable Gräf-&Stift-Limousine mit dem Kronprinzenpaar im offenen Fonds rollt den Äppelkai von Sarajevo entlang. Gräfin Sophie beugt sich zu ihrem Gatten. «Es gibt Gerüchte von einem Attentat, das gestern auf uns verübt worden sei. Glaubst du, wir sind wirklich sicher?» Der Erzherzog legt beruhigend die Hand auf ihren Arm. «Ach, Sophie, du musst nicht immer allen Dummschwätzern und Zeitungsschreibern glauben. Du kannst ganz beruhigt sein; die Polizei wird schon für unsere Sicherheit sorgen.»
In diesem Moment biegt die Wagenkolonne auf die Lateinerbrücke ein. ■
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Geb. 1953 in Marienberg/D, Studium der Theologie in Marburg, verschiedene literarische und theologische Publikationen, lebt als evang. Pfarrer in Nauheim
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Satire von Bernd Giehl
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Museumsreif
Bernd Giehl
August 2013
Neulich habe ich mir so ein Dings… so ein tragbares Telefon… na Sie wissen schon, was ich meine… angeschafft. So ein kleines Teil, das man in die Jackentasche stecken und mitnehmen kann. Notfalls auch auf die Kanzel. Falls der liebe Gott gerade anruft. Der spricht nämlich nicht so gern auf Anrufbeantworter.
Aber es muss ja nicht gleich der liebe Gott sein. Der ruft eher selten an. Kann ja auch die Pietät sein, die sich beschwert, dass sie mich schon wieder nicht erreichen kann. Wo ich denn gewesen sei. ‚In Gedanken‘, konnte ich ja schlecht sagen, auch ‚beim Waldspaziergang‘ hört sich nicht gut an, also behauptete ich, ich hätte einen Krankenbesuch gemacht. Ich solle mir endlich mal einen Anrufbeantworter anschaffen, forderte der unverschämte Kerl. Dann könne er mir wenigstens eine Nachricht darauf hinterlassen. Ich sehe mir mein altes schwarzes Telefon an, bei dem ich den Hörer tatsächlich noch auf die Gabel legen kann, und denke: Ob das funktioniert? Na, jedenfalls drehe ich lieber die Wählscheibe, als irgendwelche Tasten zu drücken.
Leider bin ich kein Held. Meine Hartnäckigkeit beim «Nein» sagen hält sich in Grenzen. Als drei Tage später auch noch der Dekan anrief und mir sagte, die Pietät habe sich beschwert, ich sei nie zu erreichen, wusste ich, was die Stunde geschlagen hat. Aber ein wenig Selbstachtung brauche auch ich. Wir einigten uns schließlich darauf, dass ich künftig per E-Mail zu erreichen sei. Also kaufte ich mir einen Computer («PC» sagen die Kollegen dazu) ließ mir von einem Bekannten Internet und E-Mail einrichten und meldete mich beim Kurs «Windows for silverheads» an. Ob ich das als Arbeitszeit verbuchen und dafür weniger Religionsunterricht geben könne, fragte ich den Chef. Der lächelte nur müde. Als ich die erste E-Mail empfing (sie kam vom Dekan, der mir gratulierte), war ich stolz.
Auf dem nächsten Treffen der Pfarrerschaft fragte er mich, wie ich denn mit meinen neuen Computer (er sagte natürlich auch «PC») zurechtkäme. Ich erzählte ihm von meinen Fortschritten. Mittlerweile wagte ich mich nämlich auch schon ins Internet (auch das hatte ich bei meiner Fortbildung gelernt) und schrieb die ersten Texte mit dem Gerät. Aber irgendwie schien er mit den Gedanken schon beim nächsten Punkt der Tagesordnung zu sein; jedenfalls unterbrach er mich mit der Bemerkung, wenn ich schon technisch so weit sei, könne ich mir ja endlich einen Anrufbeantworter oder gar ein neues Telefon kaufen.
Ich wollte ihm schon erwidern, die Kirche sei jahrtausendelang ohne Telefon und Anrufbeantworter ausgekommen; sie werde es auch überleben, wenn einer ihrer Hirten auch weiterhin keine Aufzeichnungsmaschine besitze, aber dann biss ich mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Brachte doch alles nichts. Bereit sein ist alles. Auch in der Kirche. Besonders in der Kirche.
An dem Tag war ich wütend. Ein paar Tage später stach mich der Hafer. Wenn schon ein neues Telefon, dachte ich, dann doch am besten gleich so ein superschickes Teil. Mit dem man Fotos schießen, ins Internet gehen und E-Mails abrufen kann. So etwas hatte ich schon bei meinen Konfirmanden gesehen. Die konnten ihr Spielzeug ja kaum aus der Hand legen. Also ging ich in einen nahegelegenen T-Punkt und kaufte mir so ein Telefon mit einem angebissenen Apfel auf der Rückseite. Würde ich den nächsten Urlaub eben in den Bayerischen Alpen verbringen statt in der Türkei.
Vier Wochen später (Montag)
Habe geübt. Alte Entwürfe für den Konfirmandenunterricht genommen. Religionsunterricht aus dem Ärmel geschüttelt. Besuche auf das Nötigste beschränkt. Predigten aus den letzten Jahren genommen. Merkt ja sowieso keiner. Nur Frau F. hat mich so merkwürdig angeschaut. Tut die aber öfter. Dafür jede freie Minute am Rechner verbracht. Gott und der Welt E-Mails geschrieben. Und mit dem Dings, dem Smartphone gesimst. Unterkringelt mir das Programm doch glatt das Wort «gesimst». Sagt aber heute doch jeder.
Morgen werde ich mir WLAN einrichten lassen. WLAN ist die Zukunft. Sagen alle.
Also, auf in die Zukunft.
Dienstag
Schweren Herzens habe ich mein altes Telefon ins Heimatmuseum gebracht. So ein schönes Gerät habe ihm noch gefehlt, sagt Günter Hopp, der das Museum leitet.
Donnerstag
G. ist gekommen um die Installation vorzunehmen. Fragt mich nach meinem «Rou …» irgendwas. Ich spreche nicht chinesisch, sage ich. Er lacht und wiederholt das Wort langsam. «ROUTER-PASSWORT.» Als ich immer noch nicht verstehe, zeigt er auf das silbergraue Teil, das an der Wand hängt und grün leuchtet.
«Ich kenne das Passwort nicht. Du hast mir das Internet eingerichtet.»
Er kratzt sich am Kopf, denkt nach, streicht sich über die Wange, denkt noch einmal nach, sagt schließlich:
«Aber ich habe dir doch den Vertrag gegeben. Da müsste es drinstehen.»
«Hast du nicht», sage ich.
«Habe ich doch.»
Also Durchsicht von ungefähr 20 Aktenordnern. Kein Vertrag mit der Telekom. Nirgends. Schließlich Anruf beim «Provider». (Auch das ein Wort, das ich mittlerweile in meinen Wortschatz aufgenommen habe.) G. erklärt sein Anliegen, hört zu, sagt:
«Aber das müssen Sie doch haben», hört erneut zu, sagt schließlich:
«In Gottes Namen» und legt auf.
«Was soll jetzt in Gottes Namen passieren?»
«Sie schicken uns ein neues Passwort zu.»
Plötzlich schreit er auf, fasst sich an den Kopf, sagt:
«Die Idioten. Ich fasse es nicht.»
«Wen meinst du mit ‘die Idioten’?» frage ich zurück. G. deutet auf das silbergraue Teil an der Wand, das jetzt mit vier Punkten blinkt. Ich verstehe immer noch nicht.
«Das wirst du gleich selbst sehen können», sagt er. «Starte mal den Rechner.»
Nach zwei Minuten ist er hochgefahren.
«Und jetzt versuch mal, ins Internet zu kommen.»
Ich gehe auf das Symbol, es kreist und kreist, länger als das Universum. Schließlich erscheint die Meldung auf dem Bildschirm: «Verbindung nicht möglich.»
«Was bedeutet das?» frage ich, den Kopf voll mit bösen Vorahnungen.
«Das bedeutet, dass sie dich abgehängt haben.» Er zieht sein Handy aus der Tasche, schlägt im Telefonbuch nach und wählt die Nummer der Telekom. Ich kann den merkwürdigen Klingelton hören, dann ertönt erst einmal Musik. Zwischendurch eine Automatenstimme: «Bitte haben Sie noch etwas Geduld.»
Zwanzig Minuten später hat er einen Berater erreicht. Einen wirklichen Menschen. Ich kann das Gespräch mithören, da er das Telefon auf «Laut» gestellt hat. Allerdings könnte er genauso gut serbokroatisch oder Hindi reden, dann würde ich nur unbedeutend weniger verstehen. Es geht um eine bestimmte Seite auf die er gehen soll, dann könne er eine Mail von T-Online abrufen. Aber genau das gehe doch gar nicht, weil wir ja nicht ins Internet kämen. Nein, ein Smartphone habe er auch nicht.
«Ich habe doch eins», rufe ich dazwischen, aber er bedeutet mir mit einer Geste, ich solle den Mund halten. Dann legt er auf, versucht, mir die Sache zu erklären. Es gebe da ein E-Mail Passwort. Ob ich das hätte. Stolz wie Oskar sage ich, damit hole ich immer meine Mails ab.
Zehn Minuten später sitzen wir bei ihm zuhause am Computer, rufen die T-Online Seite auf, geben meine E-Mail Adresse ein, danach das Passwort; es erscheint eine Fehlermeldung. Erneuter Versuch. Ob ich mir das Passwort auch richtig gemerkt hätte, fragt G.
Mühsam unterdrücke ich meinen Stolz und sage, Zahlen seien eine meiner vielen Stärken. Schließlich erneuter Anruf bei der Telekom. Ja, natürlich hätten sie auch das E-Mail Passwort geändert. Das sei so üblich. Nein, er könne ihm das Passwort nicht auf seinen Rechner schicken. Schließlich sei er ja nicht der Besitzer des Anschlusses, um den es gehe. Es tue ihm furchtbar leid, aber ein Techniker könne auch nicht kommen. Sie könnten zwar einen schicken, aber der kenne das Passwort nicht. Das könnten sie dem Besitzer des Anschlusses nur persönlich…
Was G. danach gesagt hat, möchte ich lieber nicht wiederholen.
Samstag
Immer noch kein Internet und keine E-Mail. Dabei hat G. wirklich sein Bestes getan.
Habe mich zusammenreißen müssen, damit ich nicht bei der geringsten Kleinigkeit das HB-Männchen spiele.
Dienstag
Das Router Passwort ist per Post gekommen. G. hat mir den Anschluss neu eingerichtet. Ich habe das Gefühl, dass er wütend auf mich ist. «Du solltest dir endlich mal ein E-Mail Konto auf deinem i-phone einrichten lassen. Dann passieren solche Dinge auch nicht mehr.»
Ich hätte ihn am liebsten gefragt, ob ich schuld sei. Die Frage habe ich runtergeschluckt. Stattdessen habe ich ihm eine Flasche Armagnac geschenkt.
Ein wenig schien ihn das wieder zu versöhnen.
Oktober
Habe das Handbuch fürs i-phone von vorne bis hinten gelesen und dann versucht, ein E-Mail Konto einzurichten. Weiß nicht wie viele Versuche ich unternommen habe. War in drei T-Punkten, aber beim Kennwort kam immer dieselbe Fehlermeldung.
Drei Tage später
Ich habe G. mein i-phone geschenkt. Er hat sogar Danke gesagt.
Gestern
In der Nacht, als ich nicht schlafen konnte, überfiel mich Wehmut. Mein altes schwarzes Telefon fiel mir ein, das mir über so viele Jahre gute Dienste geleistet hat. Morgens wusste ich, was ich tun musste. Also ging ich als erstes, noch vor der Dienstbesprechung ins Heimatmuseum. Natürlich hatte es noch nicht offen. Glücklicherweise wohnt Herr Hopp in der Wohnung über dem Museum. Er war sogar noch zuhause. Ich musste 50 Euro als Spende geben, sonst hätte ich es nicht wiederbekommen. Es täte ihm in der Seele weh, sagte Herr Hopp.
Zuhause steckte ich den Stecker in die Dose und hob den Hörer ab. Ein Summen ertönte. Dann legte ich den Hörer behutsam wieder auf die Gabel.
Man muss zu seinen Irrtümern stehen. ■
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Geb. 1951 in Marienberg/D, Studium der Theologie in Marburg, verschiedene literarische und theologische Publikationen, lebt als evang. Pfarrer in Nauheim
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Literatur-Wettbewerbe 2013
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10. Marburger Kurzdramen-Wettbewerb
Kurze Theater-Texte für maximal fünf Personen
Die Marburger Theaterbühne «GegenStand» schreibt erneut ihren Kurzdramen-Wettbewerb aus. Gesucht sind ca. 30-minütige Theatertexte für eine maximal fünfköpfige Besetzung. Die drei bestplazierten Arbeiten werden im Rahmen des Marburger Kurzdramen-Festivals im Dezember 2013 uraufgeführt. Einsende-Schluss ist am 1. Mai 2013, die weiteren Details finden sich hier. ■
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Zum 40. Todesjahr von Brigitte Reimann
Literarische Texte zur Dichterin Brigitte Reimann gesucht
Anlässlich des 40. Todesjahres der Burger Dichterin Brigitte Reimann lädt der Autorenverein Pelikan zur Einsendung von Zuschriften zu Leben und Werk Reimanns ein. Die einzureichenden Texte sind formal ungebunden: möglich sind Lyrik, Kurzprosa, Briefe, Skizzen und Erzählungen, die ausgewählten Texte werden in Lesungen vorgestellt und in einer Anthologie publiziert. Einsende-Schluss ist am 30. Mai 2013, weitere Einzelheiten gibt es hier. ■
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Lyrik-Wettbewerb des «Literaturpodiums»
Gesucht: Gedichte zum Thema «Elemente»
Die Literaturplattform Literaturpodium sucht im Rahmen eines Gedichtwettbewerbes deutschsprachige lyrische Werke zur Thematik «Elemente». Auf literarische Qualität wird besonders Wert gelegt, wobei Klassische Poesie ebenso möglich ist wie surreale Formen. Einsende-Schluss ist am 31. März 2013, die Details sind hier zu lesen. ■
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Weitere Literatur-Wettbewerbe im Glarean Magazin
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Literatur-Wettbewerbe 2013 für junge Autorinnen und Autoren
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Internationaler Lyrik-Wettbewerb Castello di Duino 2013
«Die Zukunft… ein Ort auf dieser Welt»
So lautet das Thema des 9. italienischen bzw. mehrsprachigen Lyrikwettbewerbes «Castello di Duino». AutorInnen bis zum Alter von 30 Jahren sind eingeladen, ein unveröffentlichtes und bisher unprämiertes Gedicht einzusenden, wobei man an einer oder mehreren angebotenen Sektionen teilnehmen kann. Einsende-Schluss ist am 15. Dezember 2012, die weiteren Einzelheiten finden sich hier. ■
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Internationaler Othmar-Seidner-Jungautorenpreis 2013
Lyrik von jugendlichen Autorinnen & Autoren
Die österreichische «Gesellschaft der Lyrikfreunde» offeriert auch im nächsten Jahr ihren «Othmar-Seidner-Jungautorenpreis», der sich an jugendliche Schreibende im Alter von 17 bis 21 Jahren richtet. Es können maximal vier Gedichte von je 25 Zeilen eingesandt werden. Einsende-Schluss ist am 30. November 2012, die weiteren Details sind hier. ■
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Internationaler Walter-Kempowski-Literaturpreis 2013
Kurzprosa zum Thema «Besser geht’s nicht»
Dieser Literatur-Wettbewerb der «Hamburger Autorenvereinigung» richtet sich an deutschsprachig Schreibende mit Jahrgängen ab 1962. Eingesandt werden können literarisch geschlossene Kurzgeschichten und Erzählungen mit einer Länge von max. fünf A4-Seiten. Einsende-Schluss ist am 28. Februar 2013, weitere Einzelheiten sind hier zu erfahren. ■
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Schreibwettbewerb des Thuner Literaturfestivals 2013
Beiträge aus allen literarischen Genres gesucht
Der literarische Schweizer Förderverein «Literaare» schreibt im Rahmen seines «8. Thuner Literaturfestivals» einen Wettbewerb aus, bei dem ausdrücklich alle lyrischen und prosaischen Genres zugelassen sind. Die prämierten Texte werden von den Verfasser/innen im Rahmen von Lesungen am Festival vorgestellt. Einsende-Schluss ist am 31. Oktober 2012, weitere Einzelheiten finden sich hier. ■
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Weitere Literatur-Wettbewerbe im Glarean Magazin
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