Gastland Spanien – Birdie von Àlex Serrano, Pau Palacios und Ferran Dordal
Jede Grenze ist blutgetränkt
von Verena Großkreutz
Heidelberg, 9. Mai 2022.Vögel migrieren, Menschen auch. Eine einfache Gleichsetzung, die die Theatertruppe Agrupación Señor Serrano aus Barcelona zu einem beeindruckenden Stück inspiriert hat. Hitchcocks Horrorklassiker "Die Vögel" liefert darin die Metapher für die diffuse Angst, die die Bewohner:innen der EU befiel, als sich 2015 Millionen Menschen aufmachten, um hier Schutz zu suchen vor Krieg, Dürren und Hunger, was bekanntlich dazu führte, dass mehrere Länder die modernen Errungenschaften des Schengener Abkommens außer Kraft setzten, ihre Grenzen wieder schlossen und damit die Schutzsuchenden ihrem Schicksal überließen. "Birdie" heißt der einstündige Theaterabend, der jetzt beim Stückemarkt als Gastspiel zu sehen war.

Im Mittelpunkt steht ein berühmtes Foto. Jenes des Fotografen José Palazón, der 2014 auf dem Golfplatz von Melilla just in dem Augenblick auf den Auslöser drückte, als mehrere Migrant:innen versuchten, den hermetischen Grenzzaun, der Melilla umgibt, zu überwinden, während unten Golf gespielt wurde. Die Migrant:innen wurden in dem Moment abgelichtet, als sie auf dem Zaun saßen − wie Vögel, empfand Agrupación Señor Serrano. Melilla, spanische Beute der Kolonialzeit, zählt, obwohl es an der Mittelmeerküste Marokkos liegt, zur EU, weswegen Migrant:innen immer wieder versuchen, über Melilla nach Spanien oder in andere Länder der EU zu gelangen.
Verhaltensauffällige Vogelschwärme, die Menschen Angst einjagen
Agrupación Señor Serrano arbeiten multimedial: mit Live-Kameras, Miniatur-Landschaften und winzigen Spielfiguren, mit Objekten, Filmeinsprengseln und einer Stimme aus dem Off als Kommentator:in. Natürlich hat die Truppe Palazóns Foto als Mini-Bühnenbild nachgebaut. Bevor sein Abbild die Leinwand erreicht, wird es unter einer weiteren Kamera noch einmal bearbeitet und nach allen Regeln der Kunst analysiert − Goldener Schnitt und so. Und alles, was auf dem Foto zu sehen ist, wird genau nach seiner Herkunft befragt. Gezoomt wird auf einen der Menschen auf dem Grenzzaun in rotem Hoodie. Gespiegelt ist er auch auf der Bühne lebendig anwesend, die ganze Zeit: Still und stumm sitzt er da mit dem Rücken zum Publikum. Erst ganz am Ende, wenn das Licht schon langsam verdämmert, dreht er sich um und schleicht schüchtern nach vorne. Erst dann erkennt man das Antlitz einer Frau.
Multimedialer Schrecken: die Agrupación Señor Serrano © Pasqual Gorriz
Immer wieder flimmern Schnipsel aus Hitchcocks "Die Vögel" über die Leinwand, auch der Meister selbst kommt zu Wort. Verhaltensauffällige Vogelschwärme, die Menschen Angst einjagen, als Metapher für heutige Migrationswellen? Die Vögel existierten gar nicht, es seien die eigenen Ängste, sagt die Stimme aus dem Off. Hitchcock bestätigt das: Sein Film würde auch ohne die Vögel funktionieren.
Nerd-Theater vom Feinsten
Dann geht es mit der Kamera hinein in die Weiten einer großflächigen Landschaft, in der tausende winzige Plastikfigürchen akkurat angeordnet sind: Am Beginn steht die kleine dicke Urmutter (ist ja die aktuelle wissenschaftliche These: dass "Eva" vor 200 000 Jahren im südlichen Afrika lebte). Sie steht da als Auslöserin einer nicht enden wollenden Kolonne aus weiteren Plastiklebewesen: krabbelnde Menschenbabys, Waschbären, Frösche, hier und da ein Dino, Pinguine, Tiger, Elefanten, Wale und so weiter. Die Kamera bringt sie in Bewegung und vergrößert, was sonst nicht sichtbar wäre: Die Kolonnen laufen in ihr Unheil, in Eiszeiten, Überflutungen, in den Umweltzerstörungs- und Vergiftungswahn der Menschheit, in Panzer und anderes Kriegsgerät, in die Apokalypse.
Viele Kreaturen lösen sich in ihre Einzelteile auf, in Glibber, große Berge bilden sich aus zerstörten Figuren, manche ineinander verschmolzen. Am Ende steht maßstabsgerecht die Mauer von Melille: Aber nur wenige der Lebewesen haben es bis hierher geschafft. "Jede Grenze ist blutgetränkt", sagt die Stimme aus dem Off. Und: "Das Leben ist Bewegung." Die Message des Abends ist mehr als deutlich: Wir sind alle Migrant:innen. Wenn nicht heute, dann morgen.
Krabbelnde Menschen- und Tierströme © Pasqual Gorriz
Agrupación Señor Serrano tourt mit diesem Stück bereits seit 2016 durch Europa. Deswegen ist es in englischer Sprache, deshalb ist die Perfektion, mit der hier gearbeitet wird, geradezu überwältigend. Drei Jungs sind da am Werk mit viel Technik, Akribie und Ordnungszwang: Nerd-Theater vom Feinsten und befeuert von politisch aufklärerischem Willen.
Migrieren ist normal
Aber was die Message angeht: Hinter der schönen Perfektion des Figuren- und Objektespiels lauert die gleichmachende Vereinfachung. Platt zusammengefasst: Migrieren ist etwas Normales. Was human gemeint ist als Identifikationsstrategie, verwässert sich am Ende selbst. In absehbarer Zeit wird es so bleiben, dass die ökonomischen und geographischen Voraussetzungen weltweit extrem unterschiedlich, die Ressourcen ungerecht verteilt sind. Andererseits: Für sich gesehen ist der Abend stimmig. Und von großer ästhetischer Wirkkraft allemal.
von Agrupación Señor Serrano, Barcelona
Englisch mit deutschen Übertiteln
Konzept: Àlex Serrano, Pau Palacios und Ferran Dordal, Projektleitung: Barbara Bloin, Lichtdesign und Videoprogrammierung: Alberto Barberá, Sounddesign und Soundtrack: Roger Costa Vendrell, Videokreation: Vicenç Viaplana, Maßstabsmodelle: Saray Ledesma, Nuria Manzano, Kostüme: Nuria Manzano.
Mit David Muñiz, Pau Palacios, Àlex Serrano, Simone Milsdochter (Stimme).
Uraufführung: 6. Juli 2016
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
Eine Produktion von Agrupación Señor Serrano in Kooperation mit Grec 2016 Festival de Barcelona, Fabrique de Théâtre − Service des Arts de la Scène de la Province de Hainaut, Festival TNT − Terrassa Noves Tendències, Monty Kultuurfaktorij und Festival Konfrontacje Teatralne.
www.srserrano.com
>Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Maria Magda
von Svenja Viola Bungarten
Regie: Brit Bartkowiak
Alter Saal
Gastspiel Theater Münster
von Felicia Zeller
Regie: Max Claessen
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel HAU Berlin / Onlinetheater.live
von Kathi Kraft, Toni Minge, Luzia Oppermann + Caspar Weimann
Betreutes Spielen mit Onlinetheater.live
Eintritt frei
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr zwei herren von real madrid von Leo Meier
14:30 Uhr Wald von Miriam V. Lesch
16:00 Uhr Judith Shakespeare - Rape and Revenge von Paula Thielecke
Die Lesungen werden live www.theaterheidelberg.de gestreamt. Die Aufzeichungen sind anschließend auf www.theaterheidelberg.de abrufbar.
Zwinger 1
Gastspiel Münchner Kammerspiele / Otto Falckenberg Schule
von Ayşe Güvendiren
Regie: Ayşe Güvendiren
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspielhaus Bochum
frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears
Regie: Christopher Rüping
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Foyer
Podium:
Exil und Empowerment
2017 war die Ukraine Gastland beim Heidelberger Stückemarkt. Wie ist die aktuelle Situation für Theaterschaffende? Welchen Beitrag können Kulturinstitutionen in Deutschland leisten?
Mit: Ernst Lüdemann (Deutsch-ukraische Gellschaft), Oksana Sawtchenko (nominiert für den internationalen Autor:innenwettbewerb 2017) und Anastasiia Kosodii (Theaterautorin, Projekteiterin). Moderation: Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk Kultur). Es wird eine deutsch-ukrainische Simultan-Dolmetschung angeboten.
Eintritt Frei
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr Pirsch von Ivana Sokola
14:30 Uhr Hascherl von DIEZEN kollektiv
16:00 Uhr OLM von Philipp Gärtner
Die Lesungen werden live www.theaterheidelberg.de gestreamt. Die Aufzeichungen sind anschließend auf www.theaterheidelberg.de abrufbar.
Sprechzimmer
Gastspiel HAU Berlin / Onlinetheater.live
von Kathi Kraft, Toni Minge, Luzia Oppermann + Caspar Weimann
Betreutes Spielen mit Onlinetheater.live
Eintritt frei
Alter Saal
Gastspiel Theater Bremen
REVUE. Über das Sterben der Arten
von Jan Eichberg, Felix Rothenhäusler und Theresa Schlesinger
Regie: Felix Rothenhäusler
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
In den Gärten oder Lysistrata Teil 2
von Sibylle Berg
Regie: Christina Tscharyiski
Nominiert für den Nachspielpreis >
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Theater Erlangen
Aufruf an Alle! - 100 Jahre Sophie Scholl (14+)
Stückentwicklung
Regie: Pascal Wieandt
Nominiert für den Jugendstückpreis >
anschl. Publikumsgespräch
Maguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Leipzig / Deutsches Theater Berlin
von Sarah Kilter
Regie: Thirza Bruncken
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Consol Theater Gelsenkirchen
Löwenherzen (10+)
von Nino Haratischwili
Regie: Andrea Kramer
Mülheimer Kinderstückepreis 2021
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 3
Gastspiel Theaterhaus Jena
von Susanne Frieling und Ensemble
Regie: Susanne Frieling
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin
Filmvorführung des Theaterfilms von Jchj V. Dussel
Mit einem Center Piece von Raphaël Amahl Khouri
Deutsch mit englischen Untertiteln
Produktion: Paul Spittler
anschl. Publikumsgespräch
Anschließend für weitere 24h auf www.heidelbergerstueckemarkt.de abrufbar.
Maguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Köln
von Thomas Melle
Regie: Rafael Sanchez
Nominiert für den Nachspielpreis >
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
von Anna Neata
Regie: Rieke Süßkow
Uraufführung
anschl. Publukumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Hannover
Vater unser (15+)
nach dem Roman von Angela Lehner
Regie: Hannah Gehmacher
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Hannover
Vater unser (15+)
nach dem Roman von Angela Lehner
Regie: Hannah Gehmacher
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 3
Gastspiel Staatstheater Nürnberg
Die Tonight, Live Forever oder Das Prinzip Nosferatu
von Sivan Ben Yishai
Regie: Michael Königstein
Nominiert für den Nachspielpreis >
Anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Theater an der Parkaue Berlin
Krummer Hund (14 +)
nach dem Roman von Juliane Pickel
Regie: Alexander Riemenschneider
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Theater an der Parkaue Berlin
Krummer Hund (14+)
nach dem Roman von Juliane Pickel
Regie: Alexander Riemenschneider
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel Theater Rampe Stuttgart
Theaterserie nach E. L. Karhu
Regie: Marie Bues und Niko Elefteriadis
anschl. Publikumsgespräch
Anschließend bis zum Ende des Festivals als Stream on Demand
Marguerre-Saal
Gastspiel Münchner Kammerspiele
Who Cares – Können Roboter pflegen?
Von Gesine Schmidt
In einer Fassung von Martín Valdés-Stauber
Regie: Christoph Frick
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Maria Magda
von Svenja Viola Bungarten
Regie: Brit Bartkowiak
Alter Saal
Konzert der Band "Le Voyeur" aus Madrid
anschließend Party mit DJ
Eintritt frei
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Spanien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
12:30 Uhr Mein Italienfilm von Rocío Bello
13:30 Uhr Ich will die Menschen ausroden von der Erde von María Velasco
15:00 Uhr Thanatologie von Xavier Uriz
16:00 Uhr Die Feuerfesten (Universum 29) von Ruth Rubio
Die Lesungen werden live www.theaterheidelberg.de gestreamt. Die Aufzeichungen sind anschließend auf www.theaterheidelberg.de abrufbar.
Zwinger 1
Gastspiel Los Bárbaros, Madrid / Centro de Cultura Contemporánea Conde Duque
Die Erklärungen/ Las Explicaciones
von Rocío Bello, Elena H. Villalba, Javier Hernando und Miguel Rojo
Spanisch mit deutschen Übertiteln
(Übersetzung: Charlotte Roos)
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Prevee – Draft.inn
Fragen ans Universum / Preguntando Al Universo
von José Manuel Mora
Regie: Carlota Ferrer
Koproduktion mit Madrid Cultura y Turismo, SAU
Spanisch mit deutschen Übertiteln
(Übersetzung: Franziska Muche)
anschl. Publikumsgespräch
Foyer
Podiumsgespräch
Theater in Spanien
Martha Pazos (Regisseurin, "Othello"), José Manuel Mora (Gastlandkurator und Autor von "Fragen an das Universum") und María Velasco (Autorin des Internationalen Autor*innenwettbewerbs mit dem Stück "Ich will die Menschen ausroden von der Erde"). Moderation: Martín Valdés-Stauber. Es wird simultan deutsch-spanisch gedolmetscht.
Eintritt frei
Zwinger 3
Gastspiel Agrupacion Señor Serrano, Barcelona
von Àlex Serrano, Pau Palacios und Ferran Dordal
Produktion: Grec 2016 Festival de Barcelona; Agrupación Señor Serrano; Fabrique de Théâtre – Service des Arts de la Scène de la Province de Hainaut; Festival TNT – Terrassa Noves Tendènecies; Monty Kultuurfaktorij; Festival Konfrontacje Teatralne
Englisch mit deutschen Übertiteln
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Voadora in Koproduktion mit Teatro de La Abadía, MIT Ribadavia und Teatro São João
Othello
nach William Shakespeare von Fernando Epelde
Regie: Marta Pazos
Spanisch mit deutschen Übertiteln
(Übersetzung: Miriam Denger)
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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