Franz Werfel und die deutsche Verdi-Renaissance
Hendrikje Mautners Studie "Aus Kitsch wird Kunst"
Von Frank Müller
Sein Heimatland feierte ihn als "maestro della rivoluzione italiana" und "papà die chori", nur in Deutschland sah die Sache lange Zeit anders aus. Gerade seine ungebrochene Popularität nämlich ließ den Tonkünstler Giuseppe Verdi als höchst verdächtig erscheinen. Konnte etwas so Breitenwirksames wie die italienische Oper überhaupt einen ästhetischen Rang besitzen? "Leierkastenkomponist", Musiker des "Hm-ta-ta, Hm-ta-ta" - mit diesen und anderen Attributen pflegten die musikalisch Gebildeten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Komponisten zu bedenken, Thomas Bernhard sprach in seinem Theaterstück "Elisabeth II." gar von "Tränendrüsenitalianità". Zwar wurden Verdi-Opern wie "Rigoletto", "La Traviata", "Othello" und "Falstaff" auch auf deutschen Bühnen gespielt, der aus hiesiger Sicht bevorzugte Tondichter jedoch war Richard Wagner.
Dabei fiel nicht zuletzt ins Gewicht, dass sich die Musikästhetik im deutschsprachigen Raum (beobachtbar auch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an der Beethoven-Rossini-Debatte) weitgehend an dichotomischen Modellen orientierte, begleitet von einer Spaltung der Musik in Kunst und Nicht-Kunst. Die der klassischen Ästhetik entsprungene, bald auch als strukturelles Moment der Reflexion über Musik wirksam werdende Opposition von "Geist" und "Sinnlichkeit" spiegelte sich getreulich in der Einschätzung deutscher und italienischer Musik wider: Der vermeintlichen Oberflächlichkeit, Melodienseligkeit und den auf den anspruchslosen Genuss zielenden Opern Verdis wurden die Rationalität, das Metaphysische und die vorbildliche Reinheit Wagnerscher Kompositionen gegenüber gestellt.
Dieses Verdi-Bild hat sich mittlerweile stark gewandelt. Hendrikje Mautners Hannoversche Dissertation untersucht, weshalb sich sich die Einschätzung Verdis seit den zwanziger Jahren so grundlegend veränderte, dass sogar bis dahin unbekannte Teile seines Œuvres Einzug auf deutschen Opernbühnen hielten. Den musik- und theatergeschichtlichen Nährboden für die Rehabilitierung Verdis erblickt Mautner in der als "Opernkrise" apostrophierten Aufsplitterung einer einheitlichen Bühnenkomposition in ein stilistisch vielfältiges Spektrum. Hervorhebenswert sind dabei insbesondere die kontextualisierenden Ausführungen der Autorin zum zeitgenössischen Kulturpessimismus und Krisenbewusstsein.
Mautner entwirft ein sehr differenziertes Bild der Situation, denn auch das von Kurt Weill und anderen vertretene Konzept der "Gebrauchsmusik" kam der Annäherung von ,hoher' und ,niederer' Musik entgegen. Ebenso haben auch die retrospektiven Tendenzen jener Zeit und die Suche nach einer "jungen Klassität" das Verlangen nach Verdi-Opern befördert. Seine publikumswirksame Wiederbelebung aber hat Verdi nicht nur der als krisenhaft empfundenen Offenheit des musiktheatralischen Repertoires und den genannten Begleitfaktoren zu verdanken, sondern vor allem auch dem Engagement Franz Werfels, den man mit Fug und Recht als "Regisseur" der Verdi-Renaissance bezeichnen darf.
Das neu erwachende Interesse an der Musik des Italieners verdankt sich in erster Linie Werfels Roman "Verdi. Roman einer Oper" (1924). Werfel hat darüber hinaus aktiv in die Aufführungsgeschichte und -praxis Verdis eingegriffen und sich mit großer Ausdauer in den Dienst Verdis gestellt. So spricht Werfel einmal von einem "schweren Opfer", das er für die Neuentdeckung des Verdischen Opernwerks erbringe und das ihn den größten Teil seiner Arbeitszeit koste.
Auch dieser Teil der Dissertation wird von umfangreichen und konturierenden Exkursen eingeleitet, etwa zur literarischen Autobiografik. Im Gegensatz zu den in der musikästhetischen Diskussion gebräuchlichen und an der Einschätzung Wagners und Verdis ablesbaren Werturteilen geht es Werfel darum, die Legitimität zweier unterschiedlicher Kunstauffassungen zu begründen. Ein vermeintlicher unüberhörbarer Einfluss Wagners auf Verdi wird gar ausdrücklich verneint. "Es gibt", wie Werfel schreibt, "Eichen und Zypresssen", wobei man keiner der beiden Baumarten der anderen vorziehen kann.
Werfels beherztes Eintreten für eine Inspirationsästhetik, für eine genießende Kunstrezeption und eine nicht-aristokratische Kunst findet Mautner auf verschiedenen Ebenen durchgeführt: Auf der Grundlage gegensätzlicher Musikformen ("vokal-sinnlicher Ton" versus "instrumental-abstrakte Note"), auf der Ebene musikalischer Gattungen (Oper versus Musikdrama), auf der Ebene des Kompositionsprozesses (instinktives, unbewusstes Schaffen versus Nachdenken und "Erklügeln") und auf der Ebene des Künstlertypus (Mann aus dem Volk versus ästhetisch überfeinerte Perönlichkeit). Obgleich sich Werfel einerseits der gängigen Polarisierungen bedient, unterläuft er sie andererseits doch und rückt die Eigenschaften Verdis in ein günstiges Licht.
Indem er mit dem Tod des deutschen Komponisten Matthias Fischböck eine avanciert neue, aber als steril und konstruiert desavouierte Kunstströmung scheitern lässt - hier differenziert Mautner abermals sehr genau -, ergreift Werfel aber auch Partei für eine kulturkonservative und rationalitätskritische Position, die sich Neuem gegenüber verschließt und ihre Bezugspunkte nur in einer nostalgisch verklärten Vergangenheit findet. Dies allerdings schmälert wohl kaum sein Verdienst, den zeitgenössischen Diskurs um die Musik nachhaltig beeinflusst und ihn um neue Kriterien und Argumentationszusammenhänge erweitert zu haben.
Das letzte Kapitel der Dissertation widmet sich Franz Werfel als eines ,nachschöpfenden' Librettisten der Verdi-Renaissance. Auch dieser Teil der Arbeit wird eingeleitet von detaillierten Darstellungen: Auskünften zur Textform des Librettos, zur Diskussion seiner Stellung im Kompositionsganzen ("Autonomie" versus "Funktionalität"), zur Phänomenologie der italienischen Oper und zum "Libretto der zwanziger Jahre". Eine derartige Umsicht macht Mautners Buch nicht nur unter musikwissenschaftlicher, sondern auch unter kulturwissenschaftlicher Perspektive interessant. Wie also haben wir Werfels librettistische Schützenhilfe einzuschätzen?
Anhand vergleichender Gegenüberstellungen zeigt die Autorin, dass Werfel vor allem an einer literarischen "Qualitätssteigerung" der italienischen Libretti gelegen war und das musikdramatische Geschehen konsequent in die Textebene transkribierte. Das ist ein etwas dürrer Befund, hätte man hier doch literaturwissenschaftlich tiefer vordringen und etwa darlegen müssen, in welcher Weise sich Werfels Poesie in den "Nachdichtungen" Verdischer Libretti abbildet. Das ist aber auch schon der einige Schönheitsfehler dieses ansonsten kenntnisreich geschriebenen und auch satz- und drucktechnisch sorgfältig gestalteten Bandes.