Pilz, Qualle, Blumenkohl

Michael Light inszeniert das nukleare Inferno

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geht nicht immer friedlich zu im Periodensystem der Elemente. Eben dämmert der Morgen, da geraten Uran und Plutonium unter schweren Neutronenbeschuss. Der unscheinbare Metallkegel, in dessen Inneren sich eben die Atomkerne zu spalten beginnen - oder, um den Wirkungsgrad gleich noch um einige Megatonnen zu erhöhen, unter dem Druck der Wasserstoffisotope Tritium und Deuterium fusionieren -, entfesselt eine nie da gewesene Zerstörungskraft. Die zeitgemäße Büchse der Pandora entlädt sich in einem Lichtblitz, heißer als das Innere der Sonne und so hell, dass man ihn noch auf dem Mond sehen kann.

Jetzt beginnt ein Höllentanz. Die Explosion verdampft Tausende von Kubikmetern Boden und hinterlässt einen riesigen Krater. Aus ihm steigt ein Feuerball gen Himmel, bedrohlich langsam und umgeben von glühender ionisierter Luft. Er reißt große Mengen Wüstensand mit sich. Hoch oben am Himmel beginnt sich das Antlitz Luzifers in pilzförmiger Hässlichkeit abzuzeichnen. Die Wolke trägt radioaktiv verstrahltes Material je nach Windlage hunderte von Kilometern weit. Dort lässt sie es als "Fallout" genannten Niederschlag abregnen.

Schlägt die Bombe aufs Meer, ist das Bild ein anderes. Die Druckwelle erscheint als weiße Scheibe über der Oberfläche und muss nicht mehr zur fotografischen Vermessung mit Rauch speienden Raketen markiert werden. Sie gibt den Blick frei auf eine gewaltige Wassersäule. Bricht dieser Berg in sich zusammen, türmt sich eine Flutwelle auf, deren Scheitelpunkt mühelos die Höhe mehrerer Häuser erreicht. Innerhalb von Sekunden versenkt sie die Flotte ausgemusterter Schiffe, die zu Versuchszwecken um das Zentrum der Explosion gruppiert wurde. Über der ungleichsten aller Schlachten wölbt sich ein Blumenkohlkopf aus radioaktiven Spaltprodukten, Wasserdampf und Ruß, umschlungen von ringförmigen Kondensationswolken. Thermonukleare Explosionen über dem Pazifik schaffen sich ihr eigenes Wetter.

Wo es derartig knallt, ist der Mensch nicht fern. Hier kauern Soldaten in eigens dafür ausgehobenen Gräben, dort wohnt ein Dutzend "VIPs" einer einzigartigen Sondervorstellung bei: in bequemen Liegestühlen, ausstaffiert mit Schutzbrillen und kurzen Hosen. Wer weiß, vielleicht haben sie sogar applaudiert, als eine zweite Sonne über dem Horizont aufging. Wieder andere glaubten sich in Sicherheit, wenn sie den Kopf nur in Gegenrichtung drehten. Manche dieser teils fassungslosen, teils naiv begeisterten Augenzeugen sind gerade einmal drei Kilometer vom Ort der Explosion entfernt. Nur Augenblicke später wird sie die heranpreschende Druckwelle wie Puppen hin und her schütteln oder ihnen den Mund mit radioaktivem Staub füllen. Wer nicht sofort stirbt, dem bereiten Strontium und Cäsium einen langsamen und qualvollen Tod. Das Gleiche gilt auch für die Bewohner der Fallout-Gebiete, die Insassen der Flugzeuge, die sich der Bombe nicht fern gehalten haben oder die Besatzung von Fischkuttern, die unwissend im Dunstkreis der Vernichtung vor sich hin schipperte.

Das Ausmaß des Grauens ist bezifferbar. Exakt 216 solcher oberirdischen Atombombentests führten die USA zwischen 1945 bis 1962 in der Wüste Nevadas und im Südpazifik durch. Das Bikini-Atoll ist bis heute unbewohnbar. Bevor die Tests unter die Erde verlegt wurden, schossen die Fotografen der amerikanischen Luftwaffe unzählige Fotos, sei es zu Propagandazwecken, sei es zur wissenschaftlichen Dokumentation.

Michael Light hat in den Archiven recherchiert und seine Auswahl unter dem sprechenden Titel "100 Sonnen" zusammengetragen. Vielleicht hat der dabei versehentlich eine Null und somit eine ganze Zehnerpotenz unterschlagen, wie ein Zitat aus der altindischen Bhagavadgita beweist: "Und wenn das Licht von tausend Sonnen am Himmel plötzlich bräch' hervor zu gleicher Zeit, das wäre gleich dem Glanze dieses Herrlichen [...] Ich bin der Tod, der alles raubt, Erschütterer der Welten."

Lights Aufnahmen bezeugen, wie in der Moderne die mythischen und religiösen Bilder des Weltgerichts von der ästhetischen Konstruktion der Apokalypse abgelöst werden. In diesem Prozess wird die einfache Unterscheidung von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Gerechtigkeit und Unrecht als Text- oder Bildstruktur reflektiert und gewinnt eine eigenständige (Formen-)Sprache. Die Bilder der Bombe stilisieren den Augenblick der Detonation zum Kunstwerk, dessen Faszinationskraft man sich schwer entziehen kann. Sie ist nicht länger strafender Finger Gottes oder nukleares Armageddon, sondern eine an den Himmel gerückte Skulptur aus Feuer, Licht, Luft, Wasser, Kraft und Bewegung. Längst nicht alle Aufnahmen zeigen ein flammendes Inferno oder die klassische Pilzform.

Die Explosionen von "Hornet" und "How" zum Beispiel mutieren zu organischen Gebilden. Sie blähen sich auf und erinnern in dieser Kugelform an die verschiedenen Reifestadien von Eiern während der Ontogenese. Demgegenüber strebt "Sugar" wie eine Licht gewordene Tiefseequalle in Richtung Wasseroberfläche. Ein atomarer Kopffüßler, umfangen von einem Schirm gleißenden Lichts. "Apple-1" wiederum ist sanft an den Himmel aquarelliert, "Romeo" färbt den Horizont blutrot, "Hood" zaubert einen überdimensionalen Heiligenschein ans Firmament. Mild und nachsichtig wie ein vom Dunst verhangener Mond scheint "John" auf die Erde herab. Wie ein riesiger Schneeberg schraubt sich "Oak" in die Luft, einen fast kitschig anmutenden Sonnenuntergang beschert uns "Mohawk".

Die Namen sind Programm. Sie ordnen das Unbekannte ein in die Kategorien menschlichen Erlebens und machen den Schrecken fassbar. Aber sie dokumentieren auch die menschliche Hybris, die neu gewonnene Macht kontrollieren zu können. Als "Bravo" am 1. März 1954 etwa einen Kilometer vor der Insel Namu gezündet wurde, übertraf die tatsächliche Sprengkraft die vorausberechnete Wirkung gleich um das 2,5-fache.

Titelbild

Michael Light: 100 Sonnen.
Knesebeck Verlag, München 2003.
208 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3896601903

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch