Geschlechtlichkeit als Subjektivierungsweise
Andrea Bührmanns instruktive Untersuchung zum Kampf um weibliche Identität
Von Rolf Löchel
Meilensteine der Forschung oder der Theorieentwicklung zeichnen sich im Allgemeinen nicht zuletzt oder vielleicht sogar gerade dadurch aus, dass sie auch dort befruchtend wirken, wo sie nicht auf uneingeschränkte Zustimmung treffen. Sie sind daher zugleich stets Steine des Anstoßes, lösen sie doch innovative und weitertreibende Kritik aus. Zweifellos handelt es sich bei dem von Judith Butler in "Gender Trouble" (1990) und in "Bodies that Matter" (1993) entwickelten Konzept des Geschlechts als diskursivem Effekt um einen solchen umstrittenen Meilenstein. Zu den zahllosen kritischen Reaktionen, die Butler evozierte, gehört im deutschsprachigen Raum etwa Andrea Maihofers 1995 entworfene Konzeption des Geschlechts als Existenzweise. Nun, knapp zehn Jahre später, zeigt sich Andrea Bührmann weder mit Butlers Entwurf noch mit Maihofers kritischer Antwort zufrieden und entwickelt in ihrer Habilitationsschrift "Zur Transformation moderner Subjektivierungsweisen in Deutschland um 1900" eine Konzeption von "Geschlecht als Subjektivierungsweise".
In ihrer außergewöhnlich klar konzipierten Arbeit formuliert die Autorin einen Beitrag zur Lösung des "methodologisch-methodischen Problems", wie die "Deutungs- bzw. Klassifikationsprozesse geschlechtlicher Subjektivierungsweisen" und deren "Transformierungen" beschrieben werden können, ohne entweder "substanz-ontologische Auffassungen" von Geschlechtlichkeit zu präsumieren oder aber Geschlechtlichkeit "diskursiv aufzulösen" und sich so in den "Fallstricke[n] des linguistischen Idealismus" zu verfangen. Eine Lösung des Problems sieht Bührmann eben in der von ihr erstellten Konzeption von "Geschlechtlichkeit als moderne Subjektivierungsweise", einem methodischen Verfahren, das sie als "gesellschaftstheoretisch fundierte Dispositivanalyse" entwickelt, welche die Strukturkategorie Geschlecht einbindet.
Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit, den "methodisch-methodologische[n] Vorüberlegungen" entwickelt sie dieses Verfahren en detail. Diese sowohl innovativen als auch instruktiven - wie Bührmann mit mehr als nur gelindem Understatement sagt - "Vorüberlegungen" sind alles andere als ein bloßes Prooimion: sie sind es, die das Herzstück des Buches bilden - und nicht etwa der folgende, weitaus umfangreichere und titelstiftende Teil der Arbeit, in dem Bührmann ihr theoretisches Konzept am Beispiel des "Kampfes von Frauen um 'weibliche Individualität'" in Deutschland um 1900 erfolgreich erprobt.
Um das aus "heterogenen Verbindungen diskursiver und nicht-diskursiver Elemente" geknüpfte "Netz" aufspüren zu können, welches das hegemoniale Geschlechterdispositiv der frühen Moderne erzeugt hat, vollzieht Bührmann zunächst eine systematische Rekonstruktion von Foucaults dispositivanalytischem Verfahren, um sodann eine von dessen Analysen zur Formierung moderner Subjektivierungsweisen "inspirierte" Rekonstruktion des Geschlechterdispositivs zu entwickeln. Hierzu modifiziert die Autorin das dispositivanalytische Verfahren des französischen Theoretikers dergestalt, "dass die Strukturkategorie Geschlecht eingebunden werden kann". Denn das für Bührmanns Vorhaben entscheidende Desiderat des Foucault'schen Verfahrens besteht in der Absenz der Frage danach, "wie und warum die biologische Zweigeschlechtlichkeit in die Vielfältigkeit der Körper eingeschrieben worden ist". Eine zentrale Leerstelle, denn erst über die "Installierung" biologischer Zweigeschlechtlichkeit werden die "Grundelemente und Bedingungen" geschaffen, "auf denen das von Foucault beschriebene Sexualitätsdispositiv basiert".
In einem zweiten Schritt kontextualisiert und historisiert Bührmann Foucaults Verfahren, in dem sie die "einzelnen Formationsebenen" und ihr "Zusammenspiel in einem historisch spezifischen Dispositiv im Feld der komplexen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Macht- bzw. Herrschaftsverhältnisse" stellt. So rücken die "Widersprüchlichkeiten der gesellschaftlichen Machtverhältnisse" und die Verschränkungen 'männlicher' und 'weiblicher' Subjektivierungsweisen mit eben diesen gesellschaftlichen Machtverhältnissen in den Blick. Bührmann ergänzt Foucaults Theorem der "Normalisierungsgesellschaft" so um ein Konzept, das sowohl "die Komplexität des hierarchischen Geschlechterverhältnisses" als auch die "Über- und Unterordnungsverhältnisse" problematisiert, "in die die Menschen hineingenommen werden".
Im zweiten Teil zeigt Bührmann mithilfe dieses Verfahrens für den Zeitraum von 1890 bis 1914 auf, "wie Frauen und Männer in hierarchischer, konflikthafter Art und Weise in die widersprüchlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge eingebunden werden", und "über welche spezifischen geschlechtlichen Subjektivierungsweisen sie unterschiedliche und widersprüchliche Formen der Vergesellschaftung erfahren, die bis in ihre Persönlichkeitsstrukturen hineinreichen". Ein nicht zufällig gewählter Untersuchungszeitraum, stellt Bührmann doch fest, dass es für diese Zeit "bisher an einer systematischen Analyse der Rolle von Frauen im Hinblick auf die Kritik an der naturalisierenden Infragestellung der hegemonialen geschlechtlichen Subjektivierungsweisen" fehlt.
Wurde eingangs gesagt, dass die methodisch-methodologischen Vorüberlegungen das Herzstück der Arbeit bilden, so bedeutet dies keineswegs, dass der zweite Teil, also die Untersuchung der "Genealogie und Archäologie des Kampfes von Frauen um 'weibliche Individualität'", nur belangloses Beiwerk wäre. Das ist er ganz und gar nicht. Auch wenn es hier das eine oder andere zu monieren gibt. Insbesondere, dass Bührmann - abgesehen von zwei, drei Romanen, die sie fragwürdigerweise als Autobiografien liest - keine literarischen Quellen heranzieht. So bleibt die Frage, inwieweit der literarische Diskurs als Teil des hegemonialen Geschlechterdispositivs die Subjektivierungsweisen von Geschlecht beeinflusste, ebenso ausgeblendet wie diejenige danach, inwiefern er - bzw. die Literatur von Frauen - dessen Transformierung unternahm. Ebenfalls zu monieren - wenngleich von geringerem Gewicht - sind die gelegentlichen Anklänge an Marx' Überbau-Unterbau-Theorem, wie sie etwa in Bührmanns Annahme zum Ausdruck kommen, dass sich das moderne hegemoniale Geschlechterdispositiv als "Reaktion auf sozio-ökonomische Veränderungen" herausgebildet habe.
Ausgehend davon, dass an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert nur Männer als "autonome, mit sich selbst identische allgemein-menschliche Individu[en]" anerkannt wurden, während sich Frauen "zum sexualisierten Gattungswesen degradiert" sahen, stellt Bührmann die Hypothese auf, dass wissenschaftlich und politisch aktive Frauen nicht nur für eine "Enthierarchisierung des Geschlechterverhältnisses" kämpften, sondern auch für "weibliche Individualität" bzw. die Anerkennung einer solchen. Zunächst zeichnet die Autorin die "Konturen des hegemonialen modernen Geschlechterdispositivs" nach. In einem zweiten Schritt rekonstruiert sie die "diskursiven und nicht-diskursiven Praxen", mittels derer Frauen, die "im hegemonialen Geschlechterdispositiv hervorgebrachten" modernen Subjektivierungsweisen zu "transformieren" suchten. Wie bereits kritisch angemerkt, gerät ihr der für den um 1900 ausgetragenen Kampf um 'weibliche Individualität' nicht eben unwichtige literarische Diskurs dabei nicht in den Blick. Vielmehr konzentriert sie sich ganz auf die Verbindung zwischen Frauenforschung und politischer Frauenbewegung, die sie mit Gertrud Bäumer als "Frauensphäre" bezeichnet, deren Praxen
sie in Zusammenhang mit den "komplexen und widersprüchlichen
gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse[n]" der Zeit stellt,
und über die sie etliches Erhellende zu sagen weiß. So kann sie nachweisen, dass Frauen während des Untersuchungszeitraums in zunehmendem Maße "unterschiedliche Dimensionen" der Kategorie Geschlecht diskutierten. Bührmann spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer "diskursive[n] Explosion". Jedoch macht sie auch "zentrale Defizit[e]" der vielstimmigen Diskussion um die Kategorie Geschlecht aus, etwa, dass die "moderne hegemoniale männliche Subjektivierungsweise" kaum einmal direkt, sondern meist nur "implizit" in Frage gestellt wurde, nämlich durch die Kritik an der um 1900 hegemonialen weiblichen Subjektivierungsweise. Nicht nur aufgrund dieses Defizits muss Bührmann am Ende ihrer Arbeit das Scheitern der "Bemühungen von Frauenbewegung und -forschung im Kampf um eine 'weibliche Individualität'" konstatieren.