Im Guckkasten

Hilal Sezgins Feuilletons

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schmerzliche Minuten oder gar Stunden in einer Zahnarztpraxis haben wir wohl alle schon durchlitten. Und manche von uns werden zudem die Erfahrung gemacht haben, dass die körperlichen Torturen, für die der Herr Doktor selbst verantwortlich ist, noch um einiges von den seelischen übertroffen werden, die einem die Bemerkungen der "Zahnpflegegesundheitsassistentin" während der wegen mangelhaftem Zahnseidegebrauchs notwendigen, ja fast schon vergeblichen Zahnsteinentfernung zufügen. Hilal Sezgin jedenfalls weiß von solchen Erfahrungen zu berichten.

"Zähneputzen" lautet der Titel eines kleinen Textes, den sie in ihrem Buch "Kleines ABC der Freiheiten" zusammen mit gut und gerne 50 weiteren, meist launigen Feuilletons veröffentlicht hat, die in der Regel nicht viel mehr als eine oder zwei Seiten umfassen und die nicht selten sozialkritisch sind. Untergemischt hat die Autorin einige Kurzgeschichten, von denen nur die letzte, "Der Unterschied zwischen 0 und 1", beträchtlich umfangreicher ist.

In den meist vergnüglich zu lesenden Miniaturen berichtet Sezgin über die Schwierigkeiten, Judith Butlers Thesen trotz einstmals "inbrünstiger Lektüre" nach einigen Jahren "Uni-Abstinenz" zu memorieren, schaut dem U-Bahn fahrenden und MP3-Player hörenden Jungvolk aufs Maul oder macht sich über "die soziobiologische Argumentationsweise" lustig. Dabei scheut sie gelegentlich auch vor der Nähe zu Kalauern nicht zurück, etwa wenn sie einer Freundin, die sich nicht vorstellen kann, im Körper von Marilyn Monroe zu sein, die Sätze in den Mund legt: "Da passe ich gar nicht rein! An manchen Stellen wäre sie sicher zu eng, und an anderen stünde sie viel zu weit vor."

Hin und wieder - nicht oft natürlich, das wäre von einem Buch ja auch zu viel verlangt - spricht sie einem regelrecht aus dem Herzen. Dass es keine "malerischen Wind-und-Wetter-Spaziergänge" gibt, werden sicher nicht nur notorische Stubenhocker unterschreiben. Da mag eine englische Küstenlandschaft vom Stubenfenster aus betrachtet noch so pittoresk wirken. "Sobald man die Gummistiefel, die Regenjacke und die Plastikhose an hat und vor die Tür geht, verliert sie jede Malerischkeit". Wer, der an einem grauen Regentag auch nur über einen norddeutschen Deich spaziert ist, würde das bezweifeln wollen? Darum ist ihre Beteuerung, dass diese Auffassung kein Pessimismus sei, auch überflüssig. Denn zweifellos handelt es sich um puren Realismus. Einen dem Pessimismus nicht ganz fremden, ja sogar verwandten Realismus allerdings. Gründete doch schon der Frankfurter Meisterdenker der pessimistischen Denkungsart seine Philosophie auf die Erkenntnis, dass die Welt kein Guckkasten ist.

Auch zum in feministischen Kreisen nicht unumstrittenen Thema Prostitution bezieht Sezgin erfreulich deutlich Stellung: "Wenn Prostitution ein Beruf wie jeder andere, das Freier-Anspucken Geschäftsschädigung und die Rede von der 'Objektivierung des weiblichen Körpers' haltlos waren - was sollte dann überhaupt noch schlimm sein an diesem 'Patriarchat'?"

In manchen Feuilletons bleibt die Moral von der Geschicht' allerdings etwas zweifelhaft. Oder um es freundlicher auszudrücken: in der Schwebe. So etwa die Frage, ob die Leut' zu doof für die Philosophie sind oder die Philosophie zu doof für die Leut' ist. Und dass einige Frauen weit über siebzig Jahre lang bestens damit fahren, "herzallerliebst auf kleines Mädchen" zu machen, darf man getrost bezweifeln.

All dies ist launig und oft lustig vorgetragen. Das Schmunzeln vergeht einem jedoch beim Lesen der Texte über Massentierhaltung und Tierversuche. Es bleibt einem ebenso im Halse stecken, wie es das beim Discounter gekaufte Frühstücksei tun sollte.

Macht sich Sezgin einerseits eloquent und scharfzüngig für die Rechte der in Legebatterien und Versuchslaboren gequälten Kreatur stark, so bringt sie andererseits ungleich weniger Empathie für ihre unterdrückten Geschlechtsgenossinnen in patriarchalisch-islamischen Gesellschaften, Kulturen und Subkulturen auf. Und wenn es bei ihr einmal fundamentalistisch-sexistisch zugeht, dann nicht in Saudi-Arabien oder bei den Taliban, sondern in einer christlichen Sekte in Seattle.

Unterdrückte Musliminnen kommen bei Sezgin trotz ihrer offensichtlich feministischen Vergangenheit schlicht nicht vor. Es sei denn als Zerrbild in Gestalt einer jungen türkischen Mutter, die einen weit älteren Mann heiratet, dies aber nicht etwa aus materieller Not, auf Grund gesellschaftlichen Drucks oder weil sie keinen anderen Ausweg sieht, sondern aus kalter Berechnung. Über sie berichtet die Autorin in einem der längeren Feuilletons, in dem sie die Einrichtung der arrangierten Ehe verklärt. In ihr seien Mann und Frau nach Jahren "noch glücklich verheiratet" und dächten "anders als so manche ihrer deutschen Kollegen nicht im Traum an Scheidung". Auch Peri, eine in Deutschland aufgewachsene junge Türkin und die zentrale Figur des Textes lässt sich gegen ihre feste Absicht, niemanden zu heiraten, "den sie so einfach vor die Nase gesetzt bekommt", bei einem Besuch im türkischen Heimatdorf ihrer Eltern mir nichts, dir nichts verheiraten: "Man hatte ihr den jungen Mann vorgestellt; sie hat nicht viel gegen ihn einzuwenden; sie haben geheiratet." Zwar wird Peri in der Ehe nicht glücklich und muss schon mal fürchten, von ihrem Mann verprügelt zu werden, so schlimm kann das aber alles nicht sein, denn kaum ist sie mal für drei Wochen von ihm getrennt, "fängt [sie] bereits an, ihn zu vermissen" - so das letzte, mehr als versöhnliche Wort des Textes. Und ansonsten richtet Sezgin ihren ganzen Grimm gegen das Kopftuchverbot.

Das sind dann doch schon mehr als nur ein paar Wermutstropfen in einem weithin unterhaltsam zu lesenden und oft auch treffenden Büchlein.


Titelbild

Hilal Szegin: Kleines ABC der Freiheiten.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2005.
181 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 389741189X

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