Novel in Progress
Matthias Polityckis Roman "Ein Mann von vierzig Jahren" entstand im Internet
Von Viktor Schlawenz
"Literatur im Netz nur Trash, Stümperei, Dilettantismus?" Sven Schattenberg, im vergangenen Jahr Chat-Partner von Matthias Politycki im Internet, stellt diese Frage zurecht. Wenig überzeugend und wenig internet- spezifisch ist bisher das, was das World Wide Web an Literatur hervorgebracht hat. Die meisten Texte orientieren sich an den traditionellen Medien Buch und Zeitung, am gedruckten Wort also, sind inhaltlich und formal biderb und nutzen die Möglichkeiten des neuen Mediums nur zum geringen Teil. Noch immer gilt Schattenbergs Wort: "Ein Medium sucht sich und seine Meister, sich selbst und sie und andere darin zu formen."
Seit einigen Jahren sammelt die ›aspekte‹-Redaktion des ZDF Erfahrungen auf diesem neuen Publikationsfeld. Bereits seit 1996 gibt es bei aspekte.online eine Redaktion "Novel in Projegress". Nach Joseph von Westphalen ("Lametta Lasziv", 1996) und Ilija Trojanow ("autopol", 1997) hat Matthias Politycki seinen Roman "Ein Mann von vierzig Jahren" (vulgo "Marietta") als "Novel in Progress" konzipiert und geschrieben. Das ZDF-Projekt, betreut von den Medienpionieren Gerald Giesecke und Rudi Leitermann (Grafik), verfolgt mehrere Ziele:
1. das Ziel, medienspezifische Ausdrucksformen zu entwickeln;
2. das Ziel, Autoren an das Internet heranzuführen;
3. das Ziel, mithilfe von Literatur neue Kommunikationsformen im Internet zu erproben.
Eine neue, internet-spezifische Ausdrucksform ist die "Novel in Progress" sicherlich nicht. In den Printmedien gibt es und gab es seit langem Fortsetzungsromane, die mitunter punktgenau auf den Umbruch hin geschrieben wurden. Sofern sie von Tag zu Tag, von Folge zu Folge entstanden, hatten die Autoren die Möglichkeit, Leserreaktionen zu berücksichtigen. Karl Mays Lieferungsromane etwa operierten durchaus mit der Resonanz der Leser. Beim Internet geht natürlich alles schneller, die Zugriffsmöglichkeiten sind direkter, der Leser-User-Kreis ist potentiell globaler.
Matthias Politycki bekennt, dass er vor "Marietta" ein konsequenter "Füllfederhalter-Autor" gewesen sei, der keinen Zugang zum Netz hatte und ihn auch gar nicht wollte. Mit der neuen Rolle als quasi öffentlicher Autor habe auch eine "neue Weltsicht" begonnen, "nicht literarisch, stilistisch - eher ästhetisch". Die Arbeitsweise des Autors hat sich dadurch nicht wesentlich geändert: Der Schritt vom Füllfederhalter zum Online-Projekt ist im Prinzip nicht größer als der vom Bleistift zur Schreibmaschine. Einen Hypertext habe er nie schreiben wollen, bekennt Politycki gegenüber Chat-Partnerin Ricarda Stiller. Folgerichtig wird die Hypertext-Technik vom Autor nicht oder kaum genutzt. Die in "Marietta" gesetzten Links führen in der Regel in den Anmerkungsteil und entsprechen damit weitgehend konventionellen Wegen kommentierter Literatur mit kritischen Apparaten. "Hyperliteratur", sagt Matthias Politycki zurecht, mache "nichts wesentlich anderes als 'normale' Literatur".
Die größten Neuerungen entstehen im kommunikativen Bereich. Zum einen kann der User beobachten, wie der Autor im Netz seine Fäden zieht. Er kann mit Beiträgen an einem "Parallel-Forum" teilnehmen. Das Forum bietet ihm und anderen Usern die Möglichkeit, sowohl mit dem Autor wie auch mit der technischen Redaktion in Kontakt zu treten. Der User wird dadurch in die Lage versetzt, den Prozessverlauf indirekt zu beeinflussen; beispielsweise kann er dem Autor Briefe schreiben, ihm Fragen stellen und Anregungen geben und Erfahrungen mit anderen Teilnehmern des Forums austauschen. Ein direkter Zugriff auf die "Novel in Progress" hingegen ist nicht möglich und wird vom Autor auch abgelehnt: "Literatur ist kein demokratisches Medium, von Teamwork auf dieser Ebene halte ich wenig." Immerhin hat der Autor seinen Internet-Lesern ein begrenztes Mitspracherecht eingeräumt, was die Merkmalsausstattung seiner Hauptfigur anbelangt. Zu den Lesern und Chat-Partnern von Matthias Politycki gehörten auch zwei Lektoren, Christoph Buchwald und Klaus Siblewski.
Wenn oben behauptet wurde, Matthias Polityckis neuer Roman sei im Internet entstanden, so ist damit zuviel gesagt. Matthias Politycki hat im Gegenteil so gearbeitet, wie er vermutlich immer arbeitet: "Seit mindestens zehn Jahren existiert eine sehr grobe Gliederung, und dazu habe ich Ideen gesammelt - kreuz und quer. Dann kam die Phase der Zuordnung: also die Entscheidung, welcher Schnipsel wohin gehört usw. Und jetzt, seit einigen Monaten, arbeite ich tatsächlich die (inzwischen weit differenziertere) Gliederung chronologisch ab - so entsteht eine erste Gesamtniederschrift. Alles vorher war zwar in Gedanken immer auch schon chronologisch angelegt, die tatsächliche Arbeit fand jedoch an allen Ecken und Enden gleichzeitig statt, sozusagen." Dadurch aber, dass der Autor es zugelassen hat, dass sein Romanentwurf zu einem Internet-Projekt erweitert wurde, ist jedoch ein erhöhter Aktualitäts- und Produktionsdruck entstanden. Die "Novel in Progress" war exakt zwei Jahre im Netz. Anschließend wurde sie, vermutlich in gewohnt traditioneller Weise, für die Buchausgabe vom Autor bearbeitet. Aus dem Internet-Projekt ist eine CD-ROM hervorgegangen, die unter anderem Folgendes bietet: